News #7 zu Abschiebungen und zur Abschiebungspraxis in Nordrhein-Westfalen

Wir stellen in unregelmäßigen Abständen einen Newsletter mit unseren Reports, mit Beiträgen, Presseberichten, Materialien, Projekten/Terminen (Nordrhein-Westfalen und Umgebung) rund um das Thema Abschiebungen und Abschiebungspraxis in Nordrhein-Westfalen zur Verfügung.

(Wir bitten euch, uns zu informieren über relevante Inhalte, die wir mit aufnehmen könnten.)

Geschafft: Die neue Website des Projekts „Abschiebungsreporting NRW“ ist endlich online! Hier sind alle Berichte aus unserer Arbeit gebündelt abrufbar, auch die, die seit Entstehen des Projekts im August 2021 veröffentlicht worden sind. Etwas über ein Jahr nach Aufnahme unserer Arbeit wird deutlich, was schon zu erwarten war: Unsere Berichte zeugen von Gewalt, Zwang und Fremdbestimmung, und sind beim Lesen oft schwer zu ertragen.

Doch wir machen weiter. Wir freuen uns, Fördermittel für ein weiteres Jahr erhalten zu haben. So können wir weiter sichtbar machen, was viel zu oft im Geheimen und Verborgenen bleibt.

Kommt direkt mit uns ins Gespräch! Im Herbst 2022 diskutieren wir auf zwei Konferenzen die Abschiebungspraxis in Nordrhein-Westfalen. Anfang November auf der Jahrestagung Kirchenasyl der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche (in Kooperation mit dem Ökumenischen Netzwerk Asyl in der Kirche NRW und der Ev. Melanchthon-Akademie Köln). Wir diskutieren in einem Workshop zu „Wovor es durchs Kirchenasyl zu schützen gilt“ mit und berichten aus unserer Arbeit. Ende November 2022 folgt dann das Asylpolitische Forum, das in diesem Jahr online stattfindet. Hier diskutieren wir in der AG „Abschiebungen – immer schärfer und inhumaner. Entwicklungen beim Rückkehrmanagement in NRW“ mit. Jetzt für beide Konferenzen anmelden (hier und hier)!


Abschiebungen aus NRW
Nachtabschiebung einer mehrköpfigen Familie aus Bottrop nach Armenien
Die WDR Lokalzeit Ruhr berichtete Ende August 2022 über die nächtliche Abschiebung einer mehrköpfigen Familie aus Bottrop nach Armenien. Die 18-jährige Tochter der Familie stand am Beginn einer Pflegeausbildung, die Mutter arbeitete in einer Kita, der Sohn ging zur Schule. Wieder einmal ist es unfassbar, mit welcher Selbstverständlichkeit auch Kinder und Jugendliche durch Abschiebungen mitten aus ihrem Bildungsweg gerissen werden. Die Familie lebte seit Jahren in Deutschland. Dem Bericht zufolge begründete die Behörde die Durchführbarkeit der Abschiebung mit einer lange zurück liegenden Identitätstäuschung auf der Flucht und fehlenden Reisepässen. Es drängt sich die Frage auf, inwiefern hier seitens der Behörden der neue Vorgriffserlass auf das sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht bewusst unbeachtet blieb, um Fakten zu schaffen. Der Bundestag will den Gesetzentwurf der Bundesregierung in Kürze beraten, die Bundesländer haben im Bundesrat bereits Stellung genommen.

Die Abschiebung einer angehenden Pflegekraft reiht sich ein in eine Vielzahl von Fällen, in denen Pflegekräfte aus dem Beruf heraus abgeschoben werden oder ihnen die baldige Abschiebung droht. Wir sammeln seit Monaten überregional solche Berichte.
Wie zynisch für die armenische Familie, dass sich die neue Ministerin für Flucht, Josefine Paul, nur kurze Zeit später in einer Protokollerklärung im Bundesrat über die Gewinnung von Pflegepersonal aus Drittstaaten ausließ. (sh. Plenarprotokoll der Sitzung des Bundesrates vom 16. September 2022, S. 368*)

Bochum: 572 Abschiebungen seit 2015
Von 2015 bis Mitte 2022 sind aus der Stadt Bochum 572 Menschen abgeschoben worden, wie aus einer aktuellen Antwort der Stadtverwaltung im Stadtrat hervorgeht. Den Daten zufolge leben zudem 757 Menschen mit einer Duldung in der Stadt, die spätestens 2016 nach Deutschland eingereist sind. Viele von ihnen dürften somit unter das geplante sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht fallen, das in Kürze im Bundestag beraten wird.

Halbjahresbericht Zentrale Ausländerbehörde Essen: drei Sammelanhörungen durchgeführt
Während insgesamt wenige Informationen über die Arbeit der fünf nordrhein-westfälischen Zentralen Ausländerbehörden transparent offen gelegt werden, ist zumindest ein Teil der Arbeit der Zentralen Ausländerbehörde Essen nachlesbar. Die Behörde hat ihren Bericht über die Arbeit im 1. Halbjahr 2022 kürzlich im Stadtrat vorgelegt. Aus dem Bericht geht auch hervor, mit welchen Herkunftsstaaten zuletzt eine besonders enge Zusammenarbeit zur Vorbereitung von Abschiebungen erfolgt ist. Demnach hat die ZAB Essen im 1. Halbjahr 2022 Vertreter:innen der Botschaft von Nigeria und zudem erstmals Vertreter:innen der Botschaften von Liberia und Tadschikistan empfangen, damit diese Sammelanhörungen von ausreisepflichtigen Personen durchführen. Ziel der Maßnahmen ist die Ausstellung von Passersatzpapieren. 89 Menschen waren in diesem Zeitraum von den Sammelanhörungen betroffen.

Abgeschoben hat die ZAB Essen im 1. Halbjahr 2022 255 Menschen.

Aktuelles zur Nutzung von Hand- und Fußfesseln im Kreis Siegen-Wittgenstein
Die Ausländerbehörde des Kreises Siegen-Wittgenstein hat wiederholt zu Terminen vorsprechende Menschen unter Nutzung von Hand- und Fußfesseln unerwartet festgenommen, – das sorgte für eine fortdauernde Diskussion im Kreis . Im September 2022 lag dem Sozialausschuss nun eine Antwort der Kreisverwaltung zu dieser Praxis vor (Drucksache 158/2022 1. Ergänzung). Demnach weiß die Kreisverwaltung nicht, wie häufig Hand- und Fußfesseln in der Ausländerbehörde zur Anwendung kommen. Die Fesseln finden Anwendung bei Abschiebungen bei der Fahrt zum Flughafen oder bei Fahrten zu Gerichtsterminen. Für den Vollzug von Abschiebungen würden im Kreis Siegen-Wittgenstein sich im Ruhestand befindliche Polizist:innen eingesetzt. Diese seien im Umgang mit den Fesseln geschult.

Die unerwarteten Festnahmen werden indes weiter angewendet (sh. unten „Kreis Siegen-Wittgenstein: Erneut Festnahme mit Fußfesseln bei Termin zur Duldungsverlängerung im Amt“).

Drohende Abschiebungen
Kreis Siegen-Wittgenstein: Erneut Festnahme mit Fußfesseln bei Termin zur Duldungsverlängerung im Amt
Das Bündnis „Recht zu Bleiben“ im Kreis Siegen-Wittgenstein hat auf eine neuerliche Festnahme eines Mannes in der Ausländerbehörde der Kreisverwaltung hingewiesen und diese scharf kritisiert. Die Festnahme erfolgte demnach am 07. Oktober 2022. Einem Bericht der Westfalenpost zufolge habe es sich „um einen regulären Termin zur Verlängerung der Duldung gehandelt“, bei dem der Mann zudem „auch über seine bevorstehende Hochzeit mit einer Deutschen habe informieren wollen“.

Der Kreis Siegen-Wittgenstein war in den letzten Monaten wiederholt durch seine rigide Festnahme-Praxis in der Ausländerbehörde überregional in die Schlagzeilen geraten (sh. NEWS #4, NEWS #3).

Mittlerweile hat das Bündnis „Recht zu Bleiben“ mitgeteilt, der Mann wolle „freiwillig“ in den Libanon ausreisen.
Von Freiwilligkeit kann bei dieser Behördenstrategie allerdings nicht gesprochen werden: Festnahme im Amt, dann tagelang Abschiebehaft und stetig steigender Druck zur Ausreise.

Das Bündnis „Recht zu Bleiben“ macht deutlich, wie sehr die Ausländerbehörde des Kreises Siegen-Wittgenstein zu einem angstbesetzten Ort wird: „Diese Methode ist unmenschlich und abzulehnen. Die Angst bei Verwandten und Betroffenen steigt dadurch, Termine in der Behörde wahrzunehmen.“

Nordkirchen/ Ascheberg: Drohende Abschiebung nach Burkina Faso
Seit acht Jahren lebt Osman Dao in Deutschland, zunächst in Nordkirchen, dann in Ascheberg (Kreis Coesfeld). Über Jahre arbeitete er als Sandstrahler. Nun hat ihm die Ausländerbehörde die Arbeitserlaubnis entzogen, wie die Ruhr Nachrichten berichten. So kann er auch die Wohnung, die er gefunden hat, nicht beziehen, da sie an den Arbeitsvertrag gebunden ist. Dao hat große Angst, dass er seine Duldung verliert und abgeschoben wird und bemüht sich um die Beantragung seines Reisepasses.
Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung verspricht Menschen wie Osman Dao Hilfe: Auf S. 139 heißt es: „Arbeitsverbote für bereits in Deutschland Lebende schaffen wir ab.“ Doch noch ist kein einziges der migrationspolitischen Vorhaben der Ampel-Koalition umgesetzt.

Hochsauerlandkreis: Mann kämpft gegen seine Abschiebung in den Sudan
Ein im Hochsauerlandkreis lebender Mann kämpft gegen seine Abschiebung in den Sudan. Dafür hat er eine eigene Online-Petition gestartet, die mitgezeichnet werden kann. Demnach ist der Mann als politischer und gewerkschaftlicher Aktivist und Funktionär der sudanesischen Revolution nach Deutschland geflüchtet und wurde im Sudan vom Sicherheitsapparat verhaftet und gefoltert.

Zwar wird wenig in den Sudan abgeschoben, aber einen formalen Abschiebestopp gibt es nicht. So wurden nach Daten der Bundesregierung von 2021 bis Mitte 2022 insgesamt 12 Menschen abgeschoben.

Lange Wartelisten für Kirchenasyl
Das Ökumenische Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW e.V. macht darauf aufmerksam, dass die Wartelisten für ein Kirchenasyl zurzeit sehr lang sind. Über 150 Menschen stehen zurzeit auf der Liste des Vereines. Der Abschiebungsdruck ist für die Betroffenen sehr groß.
Die taz berichtete ausführlich.

Geflüchteten Drittstaatler:innen aus der Ukraine kann Abschiebung drohen
Dass Menschen, die vor den Bomben in der Ukraine flüchteten, bereits wenige Monate später die Abschiebung drohen kann, ist Folge einer politisch so gewollten Ungleichbehandlung. Während alle Schutzsuchenden mit ukrainischem Reisepass nach einem EU-Beschluss direkt einen Schutzstatus erhalten, ist dies bei Menschen ohne ukrainischen Pass nicht automatisch der Fall. Dazu zählen ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen, die bisher in der Ukraine lebten, von der ghanaischen Medizinstudentin über den usbekischen Taxifahrer bis hin zur georgischen Großmutter.

Nun hat die Landesregierung dem neu konstituierten Integrationsausschuss im Landtag Zahlen vorgelegt (Vorlage 18/180 A 19): Insgesamt sind seit dem 24. Februar 2022 rund 215.000 Menschen aus der Ukraine nach Nordrhein-Westfalen geflüchtet. Darunter befanden sich rund 8.100 Menschen ohne ukrainischen Pass.(Stand: 11.09.22). Rund 5.000 Menschen davon haben nach Angaben der Landesregierung eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Fiktionsbescheinigung erhalten (3.423 Personen Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG, 1.538 Personen Fiktionsbescheinigung). Zu den übrigen 3.168 Personen macht die Landesregierung keine genaueren Angaben. Dazu heißt es: (…) “Der aktuelle aufenthaltsrechtliche Status der übrigen nicht-ukrainischen drittstaatsangehörigen Personen kann höchst unterschiedlich ausfallen wie z.B. Gestattung während eines laufenden Asylverfahrens, die Inhaberschaft eines anderen Aufenthaltstitels oder aufgrund der fortgeschrittenen Zeit auch der Eintritt der vollziehbaren Ausreisepflicht.“(…)

Potentiell ist dieser Personenkreis damit auch von Abschiebungen bedroht. Dass für die o.g. kleine Gruppe bisher keine generelle aufenthaltsrechtliche Lösung von der Politik vorgeschlagen worden ist, ist skandalös und beschämend. BIPoC-Geflüchtete aus der Ukraine vernetzen sich daher bundesweit, um ihre Rechte einzufordern.
Eine aktuelle Arbeitshilfe zum Themenkomplex von Rechtsanwalt Jens Dieckmann in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz e.V. kann hier eingesehen werden.

Gescheiterte Abschiebungen
Gelsenkirchen: Mann wird bei Abschiebungsversuch schwer verletzt
Wie mehrere Medien berichteten, wurde ein 51-jähriger Mann bei einem Abschiebungsversuch am 13. September 2022 schwer verletzt. Der Mann war wohl für die Sammelabschiebungsmaßnahme in den Kosovo am gleichen Tag vom Flughafen Düsseldorf vorgesehen. Den Berichten zufolge kam es zum Einsatz von Spezialkräften. Mehrere Straßenzüge im Stadtteil Schalke wurden dafür gesperrt. Nach Angaben der Polizei habe der Mann die Behördenmitarbeiter:innen zuvor mit einer Schusswaffe bedroht und sei schließlich aus dem Fenster gesprungen. Warum der Einsatz der Behörden derart eskalierte, muss dringend aufgeklärt werden.


Presseberichte
Wuppertal: Auftakt des Runden Tisches „Würde für alle“ mit Besuch des Abschiebungsreporting NRW
In Wuppertal gründet sich der neue Runde Tisch „Würde für alle“. Er beschäftigt sich, unter anderem, mit den erheblichen Missständen der örtlichen Ausländerbehörde. Zum ersten Treffen Ende August 2022 war das Abschiebungsreporting NRW eingeladen und berichtete den Interessierten über die rigide Abschiebungspraxis in Nordrhein-Westfalen. Bewusst wurde kein Schwerpunkt auf die Situation in Wuppertal gelegt.

Die Westdeutsche Zeitung und die Wuppertaler Rundschau berichteten.

Trotz Jahrhundertflut in Pakistan: Bund und Länder hielten an zwei Sammelabschiebungen fest
Über 30 Millionen Menschen sind nach Angaben von Hilfsorganisationen in Pakistan von den schweren Regenfällen, der Flut und den Folgen betroffen. Ein Zusammenhang der extremen Flut mit dem von Menschen gemachten Klimawandel ist offenkundig. Dennoch entschieden sich Bund und Länder, weiter nach Pakistan abzuschieben – so fanden kürzlich zwei Sammelabschiebungen in das Katastrophengebiet statt. Die Sammelabschiebung am 06. September 2022 von München nach Islamabad kritisierte das Abschiebungsreporting NRW gemeinsam mit dem Bayerischen Flüchtlingsrat und Hum Hain Pakistan e.V. scharf. 36 Menschen wurden mit dem Flug in einer deutsch-zypriotischen Kooperation abgeschoben, davon 29 aus Deutschland. Zahlreiche von ihnen waren zuvor in den Abschiebegefängnissen in Pforzheim, Darmstadt oder anderswo inhaftiert.
Der zweite Sammelcharter flog am 11. Oktober 2022 von Frankfurt am Main nach Pakistan. Die Landesflüchtlingsräte, PRO ASYL und Hum Hain Pakistan e.V. haben auch diese Maßnahme scharf kritisiert und einen sofortigen Abschiebungsstopp für Pakistan gefordert. Zuvor hatte auch der Flüchtlingsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland Christian Stäblein einen Abschiebungsstopp für Pakistan gefordert.

Im ersten Halbjahr 2022 hat sich Nordrhein-Westfalen nach Angaben der Bundesregierung an drei von fünf Sammelabschiebungen nach Pakistan beteiligt (sh. BT-Drs. 20/3130).

Österreich: Zwangseinziehung zur Armee nach Abschiebung nach Tschetschenien
Die österreichische Zeitung ZackZack berichtete in einer ausführlichen Reportage über zwei in die Russische Föderation abgeschobene Tschetschenen, die in die russische Armee zwangseingezogen wurden. Die beiden Männer waren demnach als Kleinkinder nach Österreich gekommen und im April 2022 abgeschoben worden. Einer der beiden befand sich zum Zeitpunkt der Berichterstattung bereits in einem Militärlager an der ukrainischen Grenze. Beide Männer sprechen dem Bericht zufolge kein russisch.

Es ist davon auszugehen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt. In den letzten Jahren waren auch viele in Deutschland lebende Tschetschenen von Abschiebung betroffen.

Gesetzgebung
Gesetzesentwurf zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts
Mittlerweile hat der Bundesrat seine erste Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein sogenanntes Chancen-Aufenthaltsrecht beschlossen (sh. BR-Drs. 367/22 Beschluss). Von den durchaus vorhandenen progressiveren Vorschlägen aus den Ausschüssen des Bundesrates schaffte es allerdings keiner zu einem Mehrheitsvotum im Plenum. So schlug der Ausschuss für Arbeit, Integration und Sozialpolitik vor, die Altersgrenze beim Bleiberecht für Minderjährige von der bisherigen Grenze von 14 Jahren nach unten hin abzusenken (sh. BR-Drs. 367/1/22, S. 6 f.), was eine wirkliche Verbesserung für Kinder bedeuten würde. Dafür gab es aber keine Mehrheit im Bundesrat.

Nun wird der Bundestag bald seine Beratungen aufnehmen. Wird es nicht mehr zu nennenswerten Verbesserungen im Gesetzentwurf kommen, wird das Gesetz kaum den von den Koalitionsfraktionen angekündigten Bruch mit den Kettenduldungen bewirken können. Das sieht auch die Ministerialverwaltung selbst so: Während laut Gesetzentwurf insgesamt, im Hinblick auf die geforderte Voraufenthaltszeit (Aufenthalt in Deutschland mindestens seit 2016), grundsätzlich über 136.000 Menschen bundesweit in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen könnten, geht die Bundesregierung nur von rund 98.000 Anträgen für ein sogenanntes Chancen-Aufenthaltsrecht aus (BR-Drs. 367/22, S. 16). Liest man den Gesetzentwurf dann weiter, so führt die Bundesregierung im Folgenden an, dass sie davon ausgeht, dass von den 98.000 Menschen, die das Chancen-Aufenthaltsrecht für ein Jahr erhalten würden, nur rund 33.000 Menschen die geforderten Voraussetzungen für die Erteilung eines daran anschließenden Bleiberechts nach § 25b AufenthG erfüllen würden.

So schrumpft das Gesetz in sich zusammen: 33.000 von über 136.000 potentiell profitierenden Menschen. Zwar liefert das Bundesinnenministerium keine näheren Ausführungen zu seiner Annahme, doch klingt diese nach den bisherigen Maßgaben des Gesetzes realistisch. Besonders alte, kranke und beeinträchtigte Menschen werden nach bisherigem Stand des Gesetzentwurfes kaum eine Chance haben, über das einjährige Chancen-Aufenthaltsrecht hinaus, ein dauerhaftes Bleiberecht zu erhalten, denn die Anforderungen dafür sind vielfach zu hoch. All diesen Menschen droht nach einem Jahr der Rückfall in die Duldung.

Rechtsprechung/ Erlasse
Abschiebestopp Iran
Am 08. Oktober 2022 hat Integrations- und Flüchtlingsministerin Josefine Paul erklärt, dass Abschiebungen aus Nordrhein-Westfalen in den Iran bis auf Weiteres ausgesetzt werden. Die Ministerin wies darauf hin, dass sie auf eine bundesweite Lösung setze und erwarte, dass der Bund mit den Ländern schnell ein „abgestimmtes Vorgehen“ beschließe. Zuvor hatte zunächst Niedersachsen als erstes Bundesland einen Abschiebestopp verkündet und zudem einen Antrag für die anstehende Innenminister:innen-Konferenz angekündigt.

Paul sprach zudem davon, dass Nordrhein-Westfalen „solidarisch an der Seite der Iranerinnen und Iraner“ stehe, „die sich für Frauenrechte, für Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie gegen Folter und die Todesstrafe einsetzen“.

Der Abschiebestopp in NRW erkennt endlich die dramatische Menschenrechtslage im Iran an, wo seit Wochen Demonstrierende gegen die Regierung auf die Straße gehen. Bereits mehrere hundert Menschen sind seither nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen von den Behörden getötet worden, darunter zahlreiche Minderjährige.

In NRW waren nach Angaben der Landesregierung 2.650 Menschen mit iranischer Staatsangehörigkeit ausreisepflichtig und damit bisher ohne feste Aufenthaltserlaubnis (Stand 31.12.2021), bundesweit waren es zum 30.06.2022 über 11.000 Menschen. Die iranischen Menschen in NRW finden nun endlich etwas mehr Sicherheit. Nun müssen aber auch , Bleiberechte erteilt werden sowie bestehende Arbeitsverbote und Leistungskürzungen – wo vorhanden – aufgehoben werden.

Nach Daten der Bundesregierung wurden seit 2017 bis Mitte 2022 bundesweit 145 Menschen in den Iran abgeschoben. Dem Abschiebungsreporting NRW sind in den letzten Monaten mehrere Abschiebungen aus NRW in den Iran bekannt geworden. Über eine aus dem Kreis Viersen geplante Abschiebung, die erst in letzter Minute gestoppt wurde, haben wir Ende Juni 2022 berichtet.

Minden: Abschiebung einer Familie nach Polen vorläufig gestoppt
Mit Beschluss vom 05. September 2022 (Az. 12 L 599/22.A) hat das Verwaltungsgericht Minden die Abschiebung einer Familie nach Polen vorläufig gestoppt. Die Familie sollte auf Grundlage der Dublin-Verordnung nach Polen abgeschoben werden.

Das Gericht führte in seiner Entscheidung an, dass in Polen auch Kinder oft während des Asylverfahrens inhaftiert werden. 2021 sei dies in 567 Fällen der Fall gewesen. Es sei somit offen, ob der Familie in Polen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohe.
Die weitere Klärung bleibt nun dem Hauptsacheverfahren vor Gericht vorbehalten.
Wie dramatisch schlecht es den Menschen in Polens Haftanstalten geht, dokumentiert PRO ASYL in einem Interview mit einem davon betroffenen Mann.

Europäischer Gerichtshof rügt das Handeln des BAMF während der Pandemie
Der Europäische Gerichtshof hat im September 2022 erneut das Handeln deutscher Behörden gerügt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte während der Pandemiezeit in zahlreichen Verfahren die Überstellungsfristen nach der Dublin-Verordnung ausgesetzt, um länger Zeit für Abschiebungen von Menschen in europäische Staaten zu haben. Dieses Vorgehen war rechtswidrig, entschied nun der EuGH (Az. C-245/21 und C-248/21)

Wie PRO ASYL ausführt, erhielten nach Angaben der Bundesregierung über 21.000 Asylsuchende ein entsprechendes Schreiben, bei vermutlich circa 9.000 Personen sei an der Aussetzung der Frist festgehalten worden.

Auch das Abschiebungsreporting NRW hatte über Abschiebungen berichtet, die nur aufgrund der Fristen-Trickserei des BAMF noch durchgeführt werden konnten. So war im November 2021 ein alleinerziehender afghanischer Vater nachts mit seinen vier Kindern aus Oberhausen nach Kroatien abgeschoben worden, obwohl die reguläre Dublin-Überstellungsfrist offenkundig längst abgelaufen war (sh. NEWS #2).

Aktionen
Bündnis AfghanistanNotSafe Köln/ Bonn erinnert an über 1.000 aus Deutschland nach Afghanistan abgeschobene Menschen

Regelmäßig ruft das Bündnis AfghanistanNotSafe Köln/ Bonn zu Mahnwachen auf, um auf die unerträgliche Situation in Afghanistan aufmerksam zu machen. Ende August 2022 erinnerte eine Aktivistin in ihrer Rede an die über 1.000 in den letzten Jahren aus Deutschland nach Afghanistan abgeschobenen Menschen, von denen einige nach der Abschiebung starben und viele erneut flüchten mussten. Nordrhein-Westfalens Landesregierung hatte sich regelmäßig an dieser Praxis beteiligt. Wir dokumentieren auf unserer Website den Wortbeitrag. Viel zu wenig wird über diese Menschen gesprochen. Kaum jemand fordert ihre Rückholung nach Deutschland.
Wenige Tage nach der Mahnwache nahm der Afghanistan-Untersuchungsausschuss im Bundestag seine Arbeit auf.

Sonstiges
Nach transfeindlichem, tödlichem Angriff am Rande des CSD in Münster
Der transfeindliche, tödliche Angriff auf Malte C. am Rande des CSD in Münster hat viele Menschen erschüttert. Für uns ist er unerträglich und wir verurteilen die transphobe Gewalt.
Nachdem bekannt wurde, dass der Tatverdächtige keinen deutschen Pass besitzt, gab es zahlreiche Berichte in den Medien, die den Kontext jedoch nicht immer korrekt dargestellt haben.

Zwischenzeitlich hat die Landesregierung NRW dem Landtag detaillierte personenbezogene Daten des Mannes vorgelegt. Demnach sei der sich in U-Haft befindliche 20-Jährige russischer Staatsbürger. Er sei 2014 mit der Familie eingereist und habe 2017 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erhalten, die zur Zeit bis Mai 2023 befristet sei. Grundlage sei ein vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) festgestelltes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG.

Der Mann ist also nicht ausreisepflichtig und war es auch nie. Eine Abschiebung ist aufgrund des bestehenden Abschiebungsverbotes rechtlich nicht möglich. Laut dem Bericht der Landesregierung begleitet den Fall allerdings aufenthaltsrechtlich bereits zum jetzigen Zeitpunkt die Regionale Rückkehrkoordinationsstelle (RRK) der Bezirksregierung Münster.

Abschiebeflieger Corendon Airlines sponsert Fortuna Düsseldorf
Wie hängen Abschiebungen und Sport zusammen? Möglicherweise enger als gedacht. Mit beiden werden Geschäfte gemacht, manchmal auch als Synergie. Der Fußballzweitligist Fortuna Düsseldorf präsentierte im Februar 2022 stolz seinen neuen Airlinepartner, der bereits seit Beginn der Saison 2021/ 2022 tätig sei: Corendon Airlines. Demnach umfasse das Engagement des „freundlichen Ferienfliegers“ u.a. „die werbliche Präsenz auf den TV-LED-Banden und Fan-Promotions während der Heimspiele“. Verschwiegen wird derweil, dass das Unternehmen nicht nur im Tourismus sein Geld verdient, sondern auch mit Abschiebungen. Den Recherchen von Deportation Alarm zufolge stand das Unternehmen im Jahr 2021 mit 25 Sammelabschiebungen aus Deutschland auf Platz 2 der sich an Sammelabschiebungen beteiligenden Unternehmen. 762 Menschen wurden so abgeschoben, Kosten von über 2 Millionen Euro sind entstanden. Ziele der Abschiebungen waren Albanien, Armenien, Bulgarien, Gambia, Ghana, Guinea, Kosovo, Moldau, Nordmazedonien, Rumänien, Serbien, Tunesien und die Ukraine.
Ob den Fans dieser Zusammenhang bekannt ist?

Joachim Stamp als Sonderbevollmächtigter für Migrationsabkommen der Bundesregierung im Gespräch
Wie der SPIEGEL berichtete, ist der in Nordrhein-Westfalen 2022 abgewählte ehemalige Flüchtlingsminister Joachim Stamp bei der Bundesregierung im Gespräch für das im Koalitionsvertrag vorgesehene Amt des Sonderbevollmächtigten für Migrationsabkommen mit Drittstaaten. Damit würde er unter anderem zuständig für die Aushandlung von Abkommen zur Rückübernahme von abgelehnten Asylbewerber:innen.
Im Februar 2022 hatte Stamp noch als Minister ein sogenanntes Rückkehr- und Reintegrationszentrum in Ghana eröffnet, das von Nordrhein-Westfalen finanziell unterstützt wird (sh. NEWS #4).

Veranstaltungen
Fr., 04. November bis So., 06. November 2022, Köln:
Jahrestagung Kirchenasyl „Gemeinsam Grenzen überwinden“
Organisiert von der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche in Kooperation mit dem Ökumenischen Netzwerk Asyl in der Kirche NRW und der Ev. Melanchthon-Akademie Köln

Das Abschiebungsreporting NRW diskutiert in einem Workshop zu „Wovor es durchs Kirchenasyl zu schützen gilt“ mit und berichtet aus der Arbeit.

Anmeldungen bis 15.10.2022 erbeten.

Fr., 25. November bis So., 27. November 2022, online:
Asylpolitisches Forum 2022: Mehr Humanität wagen – Verbesserungen beim Flüchtlingsschutz jetzt!

Organisiert von der Evangelischen Akademie Villigst im Institut für Kirche und Gesellschaft, Evangelische Kirche von Westfalen, in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingsrat NRW, Amnesty International, PRO ASYL, Diakonie RWL und der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche

Das Abschiebungsreporting NRW diskutiert in der AG zu „Abschiebungen – immer schärfer und inhumaner. Entwicklungen beim Rückkehrmanagement in NRW “mit.

NEWS #7 als pdf

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