Im Dezember 2024 hat die Stadt Arnsberg einen 20-jährigen kurdischen Geflüchteten rechtswidrig in die Türkei abgeschoben. Es handelt sich um die dritte vom Abschiebungsreporting NRW dokumentierte rechtswidrige Abschiebung aus Nordrhein-Westfalen binnen 25 Monaten. Eine weitere unrechtmäßige Abschiebung aus NRW hat die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter mit ihrem Jahresbericht 2023 jüngst öffentlich gemacht.
Am 9. Dezember 2024 vormittags hatte das Verwaltungsgericht Arnsberg mit einem Gerichtsbeschluss (Az. 10 L 1341/24) gegenüber der Stadt angeordnet, dass am gleichen Tag keine Abschiebung des Mannes in die Türkei erfolgen dürfe. Der Geflüchtete war zu dieser Zeit jedoch schon zur Abschiebung abgeholt worden und befand sich bereits am Flughafen Köln/ Bonn. Der Abflug war aber noch nicht erfolgt. Dennoch wurde die Abschiebung nicht abgebrochen. Der Mann wurde auch nicht sofort wieder nach Nordrhein-Westfalen zurückgeholt. Dabei befanden sich nach Informationen des Abschiebungsreporting NRW im für die Abschiebung genutzten Linienflugzeug in die Türkei auch Beamt:innen der Bundespolizei, die für eine sofortige Rückreise noch am gleichen Tag hätten sorgen müssen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen ist eine Flugabschiebung erst dann abgeschlossen, wenn die abzuschiebende Person den Transitbereich des Zielflughafens verlassen hat und damit in das Zielland eingereist ist. Das OVG hatte alle Ausländerbehörden in NRW im November 2022 in einem Rundschreiben angemahnt, das Gebot effektiven Rechtsschutzes bei Flugabschiebungen einzuhalten und gerichtliche einstweilige Anordnungen – wie hier – umgehend umzusetzen. Vorliegend hätte der Mann im Transitbereich des Flughafens in der Türkei verbleiben können, um direkt wieder nach Deutschland zurückzufliegen. Es gibt täglich dutzende Flüge zwischen der Türkei und Deutschland. Dies hätte die Stadt Arnsberg sicher stellen müssen. Bis heute hat die Stadt jedoch die Wiedereinreise des Mannes verweigert, obwohl er sich sogar ein eigenes Ticket dafür besorgt hatte. Er muss sich seither aufgrund politischer Verfolgung in der Türkei verborgen halten. Zwei enge Verwandte des Mannes haben in Deutschland und Großbritannien Flüchtlingsschutz erhalten.
Zum Zeitpunkt der Abschiebung war ein am 02. Dezember 2024 gestellter Asylfolgeantrag des Mannes beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) anhängig, der bisher nicht beschieden worden war. Auch lag bisher keine Mitteilung des BAMF nach § 71 Abs. 5 Satz 2 Asylgesetz vor, das kein weiteres Asylverfahren durchgeführt werde. Somit durfte laut geltendem Recht selbst ohne gerichtliche Entscheidung keine Abschiebung durchgeführt werden. Das unter diesen Umständen überhaupt frühmorgens eine Abholung des Mannes zur Abschiebung erfolgt, ist schon an sich ein Skandal. Die Stadt Arnsberg hat die Rechtswidrigkeit der Abschiebung sehenden Auges in Kauf genommen.
Sebastian Rose, Abschiebungsreporting NRW, Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.:
„Ständig wird in der Politik nur über steigende Abschiebezahlen und die angebliche Notwendigkeit von Abschiebungen gesprochen. Was Gerichte entscheiden oder ob rechtsstaatliche Verfahren und der effektive Rechtsschutz eingehalten werden, scheint gar keine Rolle mehr zu spielen. Offenbar soll auch dem Diktum von Bundeskanzler Olaf Scholz vom September 2024 von Massenabschiebungen in die Türkei um jeden erdenklichen Preis gefolgt werden, auch um den Preis von schwersten Rechtsverletzungen.“
Nach der rechtswidrig erfolgten Abschiebung hat zudem das Landgericht Paderborn – dieses Gericht war hier für die Fragen der Abschiebungshaft zuständig – am 30. Dezember 2024 entschieden, dass der gegen den Mann verhängte Ausreisegewahrsam den Mann in seinen Rechten verletzt hat. Er war am 26. November 2024 auf Beschluss des Amtsgerichts Arnsberg, das hier in erster Instanz zuständig war, inhaftiert worden und verblieb im Abschiebegefängnis Büren bis zur Abholung zur Abschiebung am 9. Dezember 2024. Das Amtsgericht hatte allerdings durch seine Verfahrensgestaltung den seit Ende Februar 2024 gesetzlich verankerten Anspruch des Betroffenen auf Beiordnung eines Verfahrensbevollmächtigten aus § 62d AufenthG verletzt. 14 Tage Haft im Abschiebegefängnis Büren waren also rechtswidrig und hätten nicht verhängt werden dürfen. Abschiebehaft ist eine Haft ohne vorherige Straftat, die nur verhängt wird, um später leichter abschieben zu können. Für die rechtswidrige Inhaftierung steht dem Mann nun eine finanzielle Entschädigung zu.
In Sachen der Rückkehr des Mannes nach Nordrhein-Westfalen haben die Behörden dagegen neue Fakten geschaffen, die eine Rückkehr nun vollends verhindern sollen. Zwei Tage nach der Abschiebung, am 11. Dezember 2024, erließ das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen neuen Bescheid, der den Asylfolgeantrag des Mannes als unzulässig zurückwies und auch keine Abschiebeverbote im Hinblick auf eine Abschiebung in die Türkei feststellte. Gegen diesen Bescheid ist ein Verfahren beim Verwaltungsgericht Arnsberg anhängig, dass der Mann jetzt aber aus Sicht der Stadt Arnsberg und des BAMF von der Türkei aus führen soll, ohne dort in Sicherheit zu sein.
Mindestens vier rechtswidrige Abschiebungen und ein rechtswidriger Abschiebeversuch in NRW in den letzten 25 Monaten
Rechtswidrige Abschiebungen oder Abschiebeversuche sind in Nordrhein-Westfalen kein Einzelfall. Binnen 21 Monaten liegt dem Abschiebungsreporting NRW jetzt der dritte gleichartige Fall von kurdischen Männern aus der Türkei vor. Im März 2023 war ein Mann aus Rietberg im Kreis Gütersloh bereits zum Flughafen gefahren worden, obwohl das Verwaltungsgericht Minden (Beschluss vom 08. März 2023, Az. 8 L 207/23.A) tags zuvor entschieden hatte, dass die Abschiebung vorläufig nicht erfolgen dürfe. Die Abschiebung wurde schlussendlich erst am Flughafen gestoppt. Im Dezember 2023 setzte die Stadt Siegen dann die Abschiebung eines Mannes in die Türkei durch, obwohl eine Richterin des Verwaltungsgerichts Arnsberg der Stadt zuvor telefonisch gegenüber nahe legte, die bereits laufende Abschiebung abzubrechen. Ein Gerichtsbeschluss (VG Arnsberg, Beschluss vom 5.12.2023, Az. 8 L 1480/23.A), der dann während des Fluges erging und verfügte, dass die Abschiebung nicht erfolgen dürfe, blieb unbeachtet. Diese unrechtmäßige Abschiebung soll im Februar 2025 Thema im Siegener Stadtrat werden. Im November 2022 setzte der Kreis Viersen eine Abschiebung in die Demokratische Republik Kongo entgegen eines Gerichtsbeschlusses durch. Und im November 2023 wurde die Abschiebung eines Mannes aus NRW nach Nigeria entgegen eines Gerichtsbeschlusses des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen nicht abgebrochen.
Sebastian Rose, Abschiebungsreporting NRW, Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.:
„Die wiederholten rechtswidrigen Abschiebepraktiken in Nordrhein-Westfalen werden dadurch begünstigt, dass aus der Politik immer schärfere Forderungen nach Einschränkung des Rechtsschutzes kommen und die Ausländerbehörden anhängige behördliche und gerichtliche Verfahren nicht mehr abwarten wollen. Auch die Nichtankündigung von Abschiebungsterminen spielt eine wichtige Rolle: Werden Gerichte erst nach Beginn eines Abschiebevollzuges angerufen, haben die Gerichte nur noch wenig Zeit, um zu entscheiden. Wird dann zugunsten eines Abbruchs der Abschiebung entschieden, schaffen die beteiligten Behörden dennoch Fakten, finden hinterher Ausreden und schieben die Verantwortung einander wechselseitig zu. Bei einer so einschneidenden Maßnahme wie einer Abschiebung ist dies ein Skandal, den die nordrhein-westfälische Landesregierung umgehend abstellen muss.“
Hintergrund zum zeitlichen Verlauf
Der Tenor des Gerichtsbeschlusses des Verwaltungsgerichts Arnsberg (Az. 10 L 1341/24) erreichte die Stadt Arnsberg aufgrund der Eilbedürftigkeit vorab fernmündlich am 9. Dezember 2024 um 11.37 Uhr, den Anwalt des Mannes um 11.38 Uhr. Der Abflug in Köln/ Bonn war für 11.45 Uhr vorgesehen. Die tatsächliche Abflugzeit war nach Informationen des Abschiebungsreporting NRW um 12.05 Uhr. Zuvor hatte es Unklarheiten über die Abflugzeit gegeben. In einem Schriftverkehr zwischen der Stadt Arnsberg und dem BAMF war mindestens einmal von 14.45 Uhr die Rede, was sich als falsch erwiesen hat.
Der Mann war vom 26. November 2024 bis 09. Dezember 2024 – mittlerweile bestätigt rechtswidrig – im Abschiebegefängnis Büren inhaftiert.
Hintergrund zu Abschiebungen in die Türkei
In den ersten neuen Monaten des Jahres 2024 wurden nach Angaben der Bundesregierung 763 Menschen aus Deutschland in die Türkei abgeschoben (siehe BT-Drs. 20/13565, S. 24 f.).
Ende September 2024 kamen Pläne der deutschen Bundesregierung und der türkischen Regierung an die Öffentlichkeit, dass zukünftig 500 Abschiebungen in die Türkei pro Woche erfolgen sollten. Das ergäbe eine gigantische Zahl von 26.000 Abschiebungen in die Türkei pro Jahr und ist offenkundig rechter Populismus. So viele formal ausreisepflichtige Menschen aus diesem Land leben nicht in Deutschland.
Der öffentlich inszenierte Druck trägt dazu bei, das auch rechtswidrige Abschiebungen hingenommen werden und der Rechtsschutz von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit immer weiter beschnitten wird.
Kontakt
Abschiebungsreporting NRW
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Köln
Sebastian Rose
Telefon 0221 / 972 69 32
Mobil 01575 / 40 35 862
E-Mail: rose (at) abschiebungsreporting.de
www.abschiebungsreporting.de
Presseberichte:
Abschiebung in die Türkei: „Er weiß nicht, wohin er soll“, in: Westfalenpost vom 19. Januar 2025