Erneut rechtswidrige Abschiebung aus Nordrhein-Westfalen
„Wir wollen eine rechtsstaatliche, faire und humanitär verantwortliche Rückkehr- und Abschiebepraxis gewährleisten“, heißt es im schwarz-grünen Koalitionsvertrag für Nordrhein-Westfalen von 2022. Kürzlich wurde erneut eine rechtswidrige Abschiebung in NRW bekannt.
Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter begleitete am 28. November 2023 eine Sammelabschiebung vom Flughafen Düsseldorf (vgl. Jahresbericht 2023, Seite 47 f.). Mit diesem Charterflugzeug wurden nach Angaben der Bundesregierung 23 Personen nach Nigeria und 13 nach Ghana abgeschoben.
Während der laufenden Abschiebung ging bei der Bundespolizei, die selbst mit 110 Beamt:innen an Bord des Flugzeuges war, ein Gerichtsbeschluss ein. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hatte entschieden, dass einer der Männer nicht hätte abgeschoben werden dürfen und daher umgehend zurück nach Deutschland gebracht werden müsse (Beschluss vom 28. November 2023, Az. 11 L 1922/23). Obwohl der Leiter der Begleitkräfte rechtzeitig über den Gerichtsbeschluss informiert worden sei, sei die betroffene Person den nigerianischen Behörden in Lagos für ein Verhör übergeben worden, das ohne Anwesenheit der Bundespolizei erfolgt sei. Das Verhör hätte dann ergeben, dass die Person nicht zurück nach Deutschland wolle.
Die Bundespolizei hat sich so nicht nur über den Gerichtsbeschluss hinweggesetzt, sondern auch über die ständige Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts NRW, dass eine Abschiebung erst dann vollzogen ist, wenn die Person den Transitbereich des Flughafens im Zielstaat verlassen hat und damit in das Land eingereist ist. Dies war nachweislich zum Zeitpunkt des Eingangs des Gerichtsbeschlusses nicht der Fall. Geht während der noch andauernden Abschiebung eine stattgebende Gerichtsentscheidung ein, so ist diese umgehend umzusetzen. Eine „Übergabe“ an Behörden des Zielstaates darf nicht erfolgen.
Mit diesem Vorgang hat die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter das Bundespolizeipräsidium konfrontiert, das einfach behauptet, „dass alle im Einzelfall gegebenen Möglichkeiten ausgeschöpft worden seien, eine Umsetzung des Gerichtsbeschlusses jedoch nicht möglich gewesen sei. Die Bundespolizei sei auch grundsätzlich an gesetzliche Regelungen der Herkunfts- und Transitstaaten gebunden und könne Anweisungen der dortigen Grenzautoritäten in keinem Fall missachten. Dies gelte auch, wenn der jeweilige Staat verlange, dass ein Staatsbürger trotz eines Gerichtsbeschlusses in Deutschland auf dessen Staatsgebiet verbleibe, d.h. eine Übergabe der betroffenen Person fordere.“ Den Nachweis, dass der nigerianische Staat wirklich eine Übergabe gefordert hätte, bleibt das Bundespolizeipräsidium allerdings schuldig.
Weiter verweist das Bundespolizeipräsidum „auf die alleinige Zuständigkeit der für die Aufenthaltsbeendigung verantwortlichen Behörde, die Adressat des Gerichtsbeschlusses gewesen sei“. Diese hätte der Bundespolizei zufolge ein Amtshilfeersuchen auf den Weg bringen müssen, um die Rückabwicklung der Abschiebung zu erwirken. Gemeint ist hier die örtlich zuständige Ausländerbehörde in Nordrhein-Westfalen, die die Bundespolizei hätte darum bitten müssen, den Gerichtsbeschluss sofort umzusetzen. Welche Behörde dies vorliegend konkret gewesen ist, ist nicht öffentlich bekannt. Es handelt sich um eine der Ausländerbehörden aus dem Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen.
Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter empfiehlt in ihrem Jahresbericht „einen Weg schnellstmöglicher Kommunikation zwischen Gericht, Ausländerbehörde und der Bundespolizei, unmittelbar nach der Gerichtsentscheidung, zu entwickeln.“ Zusätzlich solle die Deutsche Botschaft vor Ort die erforderlichen Gespräche und Maßnahmen in die Wege leiten. Um solche Fallkonstellationen und die damit verbundene Problemlage vollständig zu erfassen, plant die Nationale Stelle ein unabhängiges Gutachten in Auftrag zu geben.
Der Jahresbericht der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter liegt dem Bundestag als Unterrichtung vor.
Bewertung des Abschiebungsreporting NRW
Die Aussagen des Bundespolizeipräsidiums in einer so folgenschweren Frage wie einer Abschiebung können nur als plumpe bürokratische Ausreden bewertet werden und befremden zutiefst. Sie sind einer den rechtsstaatlichen Verfahren verpflichteten ausführenden Behörde unwürdig. Jeden Tag wird in Deutschland und auch in NRW in Kooperation von Ausländerbehörden und Bundespolizei abgeschoben. Die Zusammenarbeit der handelnden Behörden ist eng, die Abläufe geregelt. Die Bundespolizei weiß sehr genau, was ein solcher Gerichtsbeschluss bedeutet, selbst wenn er formal gegen die zuständige Ausländerbehörde gerichtet ist.
Gerichtsbeschlüsse, die Abschiebungen noch während des Vollzuges stoppen, sind zudem bei weitem keine Einzelfälle. Bundesweit wurden allein im 1. Halbjahr 2024 nach Angaben der Bundesregierung Abschiebungen von 45 Menschen noch nach der Übergabe der Person an die Bundespolizei durch Rechtsmittel gestoppt. Für diese Fälle muss es funktionierende Ablaufkonzepte der Behörden geben, um eine sofortige Umsetzung sicherzustellen und Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.
Landesregierung muss rechtswidrige Abschiebung aufklären
Die Landesregierung muss jetzt aufklären, ob und welche Schritte die zuständige Ausländerbehörde direkt nach Zugang des Gerichtsbeschlusses eingeleitet hat, um diese Abschiebung abzubrechen. Außerdem ist zu klären, ob sich die beteiligten nordrhein-westfälischen Behörden an den Erlass des Landes NRW zum Eilrechtsschutz bei Luftabschiebungen gehalten haben und warum dies dennoch nicht zum sofortigen Abbruch der Maßnahme führte. Laut Erlass hat die zuständige Ausländerbehörde nach Eingang eines solchen Gerichtsbeschlusses die Entscheidung „unverzüglich auch der für den Abflugort zuständigen Flughafendienststelle der Bundespolizei mit der Bitte um Abbruch der Maßnahme zu übermitteln“. Wenn dies erfolgt wäre, ist fraglich, warum das Bundespolizeipräsidium auf ein hier offenbar nicht vorliegendes Amtshilfeersuchen der Ausländerbehörde verweist.
Will die Landesregierung ihrem im Koalitionsvertrag festgehaltenen Vorsatz „rechtsstaatlicher Verfahren“ nachkommen, so muss sie die Verfahren und Abläufe fortlaufend überprüfen. Dies gilt gerade angesichts der derzeit laufenden intensiven Diskussion über eine deutliche Ausweitung der Abschiebungen. Rechtsstaatliche Verfahren, der Zugang zum Recht sowie die Umsetzung von Gerichtsbeschlüssen müssen jederzeit gewährleistet sein. Daran ändert nichts, dass der vorliegende Gerichtsbeschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen, der die Abschiebung stoppte, nach Auskunft des Gerichts auf Anfrage des Abschiebungsreporting NRW noch im Laufe des gleichen Tages, des 28. November 2023, für wirkungslos erklärt und das Verfahren eingestellt wurde. Als Grund dafür wurde vom Gericht genannt, dass der Betroffene abgelehnt habe, von der Bundespolizei wieder mit nach Deutschland genommen zu werden. Wie genau der Verlauf gewesen ist, kann vom Abschiebungsreporting NRW ohne Einsicht in die Akten der beteiligten Behörden nicht nachvollzogen werden. Kontakt zum Betroffenen besteht zurzeit nicht. Insbesondere ist sehr zweifelhaft, ob der Betroffene nach Landung in Nigeria überhaupt noch einmal die Möglichkeit hatte, mit dem Rechtsbeistand Kontakt aufzunehmen und sich die Gerichtsentscheidung erläutern zu lassen.
Rechtswidrige Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen sind kein Einzelfall
Rechtswidrige Abschiebungen sind in Nordrhein-Westfalen kein Einzelfall. So wurde im Dezember 2023 ein kurdischer Mann rechtswidrig in die Türkei abgeschoben. Ein Gerichtsbeschluss, der nach Abheben des Flugzeuges erging, wurde nicht mehr rechtzeitig umgesetzt, obwohl das Gericht die zuständige Stadt Siegen noch vor Abheben des Flugzeuges telefonisch deutlich darauf hingewiesen hatte, dass ein entsprechender Gerichtsbeschluss zum Stopp der Abschiebung in Betracht komme. Die Ausländerbehörde handelte aber nicht. Das Abschiebungsreporting NRW hat diesen Fall dokumentiert (siehe Buch „Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen. Ausgrenzung. Entrechtung. Widerstände“, Seite 125).
Im März 2023 war eine Abschiebung eines kurdischen Mannes in die Türkei erst auf dem Weg zum Flughafen gestoppt worden. Der Kreis Gütersloh wollte diese entgegen eines Gerichtsbeschlusses durchsetzen. Im Kontext dieses Abschiebeversuches wurde kürzlich eine weitere Anfrage im Landtag gestellt. Im November 2022 schob der Kreis Viersen einen schwer psychisch erkrankten, suizidgefährdeten und unter gesetzlicher Betreuung stehenden Mann rechtswidrig aus der Strafhaft in die Demokratische Republik Kongo ab, obwohl das Verwaltungsgericht Düsseldorf den Abbruch der Abschiebung angeordnet hatte und das Flugzeug mit dem Mann sogar noch für einen Zwischenstopp auf Zypern landete.
Kontakt:
Abschiebungsreporting NRW
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Köln
Sebastian Rose
Telefon 0221 / 972 69 32
Mobil 01575 / 40 35 862
E-Mail: rose (at) abschiebungsreporting.de
www.abschiebungsreporting.de
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