Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen erläutert in Rundschreiben seine Rechtsmeinung zu laufenden Flugabschiebungen

Nach rechtswidrig nicht abgebrochener Abschiebung im Kreis Viersen im Herbst 2022

Auch kurz vor oder während laufender Abschiebungen ist jederzeit Rechtsschutz vor den deutschen Verwaltungsgerichten möglich. Wegen der regelmäßigen Nichtankündigung von Abschiebeterminen werden die Gerichte teils sehr kurzfristig angerufen. Dem Abschiebungsreporting NRW werden regelmäßig solche Fälle geschildert, die oft dramatisch verlaufen. Kommt es dann zu einer gerichtlichen Entscheidung, dass eine Abschiebung unterbleiben oder abgebrochen werden muss, stellt sich die Frage, wie dies in der Praxis von den Behörden umgesetzt wird, um die Rechte der betroffenen Menschen zu gewährleisten. Erst in der vergangenen Woche berichtete das Abschiebungsreporting NRW über eine erst am Flughafen Frankfurt am Main abgebrochene Abschiebung aus dem Kreis Wesel.

Rundschreiben des OVG NRW

Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) hat sich in diesem Kontext am 11. November 2022 in einem Rundschreiben an alle Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen gerichtet und darin in eindringlichen Worten seine Rechtsmeinung im Hinblick auf laufende Flugabschiebungen erläutert. Das Abschiebungsreporting NRW veröffentlicht das Rundschreiben heute, um es der allgemeinen Öffentlichkeit und interessierten Fachkreisen zur Verfügung zu stellen, da es eine hohe Praxisrelevanz hat. Kernaussage des Schreibens ist es, dass eine Flugabschiebung erst dann abschließend vollzogen sei, „wenn der Ausländer die Transitzone des Zielflughafens verlassen hat und sich wieder im Hoheitsgebiet des Abschiebezielstaats befindet“.

Anlass des Rundschreibens war die rechtswidrig von Kreis Viersen und Bundespolizei nicht abgebrochene Abschiebung eines schwer psychisch erkrankten und suizidgefährdeten Mannes in die Demokratische Republik Kongo entgegen eines Gerichtsbeschlusses aus Düsseldorf im Herbst 2022. Das Abschiebungsreporting NRW hatte später, am 06. Dezember 2022 und am 17. Januar 2023 über diese rechtswidrige Abschiebung berichtet. Obwohl das Düsseldorfer Gericht am 08. November 2022 um 12 Uhr den Abbruch dieser Abschiebung anordnete (Az. 27 L 2380/22) , waren die beteiligten Behörden diesem Beschluss über Stunden hinweg nicht nachgekommen und vollzogen die Abschiebung. Das OVG NRW bestätigte damals noch am gleichen Tag die Entscheidung, dass die Abschiebung abzubrechen sei (Az. 18 B 1197/22).

Große Praxisrelevanz im Hinblick auf effektiven Rechtsschutz bei Abschiebungen

Das OVG NRW nimmt in dem Rundschreiben vom 11. November 2022 unter anderem Bezug auf die Rechtsprechung zum Fall Sami A. aus 2018 (Beschluss OVG NRW vom 15. August 2018, Az. 17 B 1029/18; weitere Erläuterungen zum Beschluss hier), als die NRW-Behörden eine laufende Abschiebung nach Tunesien entgegen eines Gerichtsbeschlusses nicht abgebrochen hatten. Der damalige Fall in der Amtszeit von Armin Laschet und Joachim Stamp hatte lange politische Diskussionen darüber nach sich gezogen, wie der Staat mit Menschen umgeht, die er als Gefahr einstuft.

Das OVG NRW führt nun aus, wie die dortigen Ausländersenate des Gerichtes zukünftig „bei Abschiebungsschutzgesuchen in Fällen einer Flugabschiebung bei unmittelbar bevorstehendem Start des Flugzeugs“ regelmäßig verfahren wollen: es werde eine „Garantieerklärung der beteiligten Ausländerbehörde eingefordert, dass die Abschiebung (auch nach Abheben des Flugzeugs) bis zu deren Vollzug abgebrochen und der Ausländer „zurückgeholt“ werden“ könne. Werde eine solche Garantieerklärung nicht unverzüglich abgegeben, müsse „die Ausländerbehörde damit rechnen, dass zur Verhinderung einer Rechtsvereitelung ein sog. „Hängebeschluss“ erlassen werde, sofern die Beschwerde nach erster überschlägiger Prüfung der Beschwerdebegründung nicht erkennbar aussichtslos“ sei. Das hieße dann, die Abschiebung würde vorläufig ausgesetzt, um die Rechte der Betroffenen von vornherein zu schützen.

Weiterhin macht das OVG NRW in dem Rundschreiben deutlich, dass eine gerichtliche einstweilige Anordnung, „mit der eine Abschiebung bzw. deren Abbruch verfügt wird, sofort vollziehbar und damit von der Ausländerbehörde umgehend umzusetzen“ sei. Eine Beschwerde zum OVG NRW habe keine aufschiebende Wirkung. Damit weist das OVG NRW indirekt erneut den Kreis Viersen, dessen Verwaltungshandeln Anlass dieses Rundschreibens war, in die Schranken. Der Kreis hatte in der oben genannten gerichtlichen Auseinandersetzung am 08. November 2022 noch Rechtsmittel gegen die Düsseldorfer Entscheidung zum Abbruch der Abschiebung vor dem OVG NRW eingelegt, statt sie sofort umzusetzen. Die Kreisverwaltung wollte noch am gleichen Tag eine andere Entscheidung erreichen, um doch an der bereits seit dem Morgen des Tages laufenden Abschiebung des Mannes in die Demokratische Republik Kongo festhalten zu können. Gleichzeitig dauerte es beim Kreis Viersen über zwei Stunden, bis der erstinstanzliche Gerichtsbeschluss, der dem Kreis Viersen seit 12.25 Uhr an diesem Tag vorlag, bei der Bundespolizei, die diesen Abschiebeflug begleitete, einging (Eingang: 14.46 Uhr). Warum die Übermittlung dorthin über zwei Stunden dauerte, ist bis heute unaufgeklärt.

Behördenzuständigkeiten

Weiterhin führt das OVG NRW in dem Rundschreiben aus, dass „erhebliche Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Übertragung behördlicher Vollstreckungsmaßnahmen (wie der Abschiebung) auf Dritte jedenfalls dann bestehen, wenn die zuständige Behörde die Vollstreckungsmaßnahme nicht bis zu deren abschließendem Vollzug unter Kontrolle halten“ könne. In dem Viersener Fall hatten sich die NRW-Behörden und die Bundespolizei unter anderem damit herausgeredet, dass die Abschiebung des Mannes nach Kinshasa mit einer belgischen Militärmaschine erfolgt sei und diese für die deutschen Behörden nicht erreichbar sei. Dabei war der komplette Flug durch Beamt:innen der Bundespolizei begleitet worden. Zudem gab es nach dem Gerichtsbeschluss noch einen Zwischenstopp auf Zypern und damit auf EU-Gebiet, wo eine Erreichbarkeit der Begleitbeamt:innen hätte zwingend gewährleistet werden müssen, um den Gerichtsbeschluss umzusetzen.


Das OVG NRW wirft in seinem Rundschreiben also wichtige Praxisfragen auf. Denn: gerade kommunale Ausländerbehörden übertragen bei Abschiebungen oft eine Fülle an Aufgaben auf andere Stellen. Oft übernehmen die Zentralen Ausländerbehörden in NRW den Abschiebevollzug bis zum Flughafen, die Bundespolizei begleitet viele Flüge. Und die europäische Agentur Frontex bekommt zunehmend mehr Aufgaben bei Sammelabschiebungen, organisiert und finanziert diese, vielfach auch als gemeinsame „Maßnahme“ mehrerer EU-Mitgliedstaaten.

Bewertung

Das Rundschreiben des OVG NRW, das wir heute veröffentlichen, kann als Warnsignal des Gerichts an die Ausländerbehörden in NRW gewertet werden, und somit auch an die Landesregierung. Die zuständigen NRW-Behörden dürfen den effektiven Rechtsschutz nicht vereiteln und müssen bei Abschiebungen jederzeit in der Lage sein, eine Maßnahme auch abbrechen zu können. Da Abschiebungen wegen der Reisezeiten und Entfernungen oft über viele Stunden oder gar mehrere Tage hinweg dauern, ist die Rechtsmeinung des OVG NRW in hohem Maße praxisrelevant.

Bitte um Hinweise aus der Praxis

Das Abschiebungsreporting NRW bittet um Hinweise aus der Praxis, inwiefern die Ausländerbehörden diesen Vorgaben entsprechend verfahren und Garantieerklärungen gegenüber den Gerichten abgeben oder ob es dazu bereits weitere Erkenntnisse gibt. Auch sind wir sehr daran interessiert, ob es mittlerweile Verfahren gegeben hat, in denen Verwaltungsgerichte Hängebeschlüsse erlassen mussten, um den effektiven Rechtsschutz der Betroffenen zu gewährleisten.

Kontakt:
Abschiebungsreporting NRW
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Sebastian Rose
Mobil 01575 / 40 35 862
E-Mail: rose@abschiebungsreporting.de

Mehr:

Rundschreiben Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen vom 11. November 2022

Kreis Wesel: Abschiebung eines suizidgefährdeten Mannes nach Sri Lanka erst am Flughafen Frankfurt am Main gerichtlich gestoppt, Report Abschiebungsreporting NRW vom 25. April 2023

Zwei Monate nach widerrechtlicher Abschiebung eines schwer erkrankten Mannes in die Demokratische Republik Kongo, Report Abschiebungsreporting NRW vom 17. Januar 2023

Kreis Viersen und Bundespolizei widersetzen sich gerichtlichem Beschluss zum Abbruch der Abschiebung eines schwer Erkrankten, Report Abschiebungsreporting NRW vom 06. Dezember 2022