Gelsenkirchen/ Nigeria: Sechs Monate nach Familientrennung war Abschiebung letzte Woche Thema im Stadtrat

Vor sechs Monaten entriss die Stadt Gelsenkirchen vier kleinen Kindern (2,5,5,7) den Vater bzw. Stiefvater. Sie schob einen 38-jährigen berufstätigen Mann im August 2022 nach Nigeria ab und trennte ihn von Partnerin und Kindern, obwohl diese in Deutschland ein Aufenthaltsrecht haben. Das älteste Kind hat zudem die deutsche Staatsangehörigkeit, weil es einen deutschen Vater hat. Dennoch war die Stadt der Meinung, die gesamte Familie könne ja nach Nigeria ausreisen. In gerichtlichen Eilverfahren war diese Auffassung gar bestätigt worden. Doch Eilverfahren ermöglichen nie eine umfassende Bewertung der tatsächlichen Umstände. Das Abschiebungsreporting NRW berichtete im November 2022 über die Situation der Familie. Drei Monate später war die Abschiebung nun letzte Woche Thema im Stadtrat in Gelsenkirchen.

Die Berichterstattung im Herbst 2022 nach unserem Report machte deutlich: das Kindeswohl kleiner Kinder scheint bei Abschiebungen in Gelsenkirchen eine geringe Rolle zu spielen. Anders ist eine solche Entscheidung über die Trennung eines Vaters von seinen Kindern nicht zu erklären. Die Familientrennung dauert bis heute bereits sechs Monate an und die Stadtverwaltung Gelsenkirchen macht in einer Antwort auf Anfrage der Ratsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen deutlich, dass dies aus ihrer Sicht auch so bleiben soll. Eine vorzeitige Verkürzung oder Aufhebung der verhängten Einreisesperre komme nicht in Betracht, heißt es da.

Was bedeutet eine solche Abschiebung konkret?

Anfang Dezember 2022 erreichte die Westdeutsche Allgemeine Zeitung den Mann telefonisch in Benin City, Nigeria:

„Immer wieder wiederholt er, was für ein „Schock“ die Abschiebung für ihn und seine Familie gewesen sei. Tagelang habe er nicht essen können und weinen müssen. „Ich habe meine Steuern in Deutschland gezahlt, ich habe Sprachkurse gemacht und mich integriert“, erzählt er. Und dennoch habe man ihn so „unmenschlich“ behandelt. „Einfach abgesetzt“ worden sei er am Flughafen, ohne Geld oder Beistand.“

Diese Schilderung reiht sich ein in eine Fülle von Aussagen, die der Stuttgarter Verein Refugees4Refugees zusammenträgt. Der Verein dokumentiert die fast monatlich stattfindenden Sammelabschiebungen nach Nigeria und unterstützt Abgeschobene vor Ort nach der Ankunft. An den Sammelabschiebungen beteiligt ist auch immer wieder Nordrhein-Westfalen. In den ersten neun Monaten von 2022 steht Nigeria mit 49 abgeschobenen Menschen in NRW auf Platz 9 bei den Abschiebungen (sh. Landtag NRW, Vorlage 18/525).

Was die Familientrennung für die betroffenen Kinder bedeutet hat, ist kaum zu ermessen. So mussten sie bereits die Festnahme des Mannes Anfang August 2022 mit ansehen, als die Behörden die Abschiebehaft durchsetzen wollten. Würde die Stadt Gelsenkirchen das Wohl der Kinder interessieren, hätte sie wohl eine frühere Familienhelferin der Familie gefragt. Die Sozialarbeiterin hatte die Familie bis 2020 im Rahmen einer Unterstützung nach dem Sozialgesetzbuch VIII begleitet. Den nun abgeschobenen Mann habe sie laut WAZ als „tragende Säule der Familie“ bezeichnet. Er habe sich um alle Belange der Familie gekümmert.

Antwort der Stadtverwaltung Gelsenkirchen im Stadtrat

Die Antwort der Stadtverwaltung auf Anfrage im Stadtrat macht auch deutlich, dass die Stadt vor der Abschiebung offenbar nicht nur keinerlei kinderrechtliche Erwägungen berücksichtigt hat, sondern auch, dass ihr das politische Vorhaben des sogenannten Chancen-Aufenthaltsrechtes der Bundesregierung relativ egal war und sie den Vorgriffserlass der Landesregierung aus Juli 2022 nicht sonderlich wichtig nahm. Dies bestätigte zunächst schon die Aussage des Leiters der Ausländerbehörde Gelsenkirchen Waldemar Kinzel gegenüber der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) Ende November 2022, der Erlass des Landes habe lediglich einen „unverbindlichen Charakter“. Und Kinzels Vorgesetzter Hans-Joachim Olbering ergänzte gegenüber der WAZ „im Einzelfall wende die Stadt den Erlass zwar an – hier habe man jedoch davon abgesehen“.

Der abgeschobene Mann und seine engsten Angehörigen sind so auch Betroffene der schleppenden Bundesgesetzgebung dieses Vorhabens, das dann erst Ende Dezember 2022 in Kraft trat. Der Erlass der Landesregierung aus Juli 2022 sah jedoch für die Zwischenzeit vor, dass das Düsseldorfer Ministerium für Flucht und Integration „keine fachaufsichtlichen Einwände geltend“ machen würde, sofern die NRW-Ausländerbehörden Abschiebungen von Menschen nicht durchführen würden, die absehbar unter das neue Bleiberecht fallen. Dies war bei dem Mann der Fall, wie auch die Stadt Gelsenkirchen nicht abstreitet. Doch eine „Potentialanalyse“ des Mannes – so die Antwort im Stadtrat – habe ergeben, dass er im Anschluss an das „Chancen-Aufenthaltsrecht“ nicht in ein weiteres Bleiberecht hätte wechseln können.

Dabei arbeitete der Mann zum Zeitpunkt der Abschiebung im August 2022 in Vollzeit. Die Aussage der Stadt in der Antwort für den Stadtrat, dies habe sie erst im September 2022 und damit nach der Abschiebung erfahren, stimmt nicht. Denn die Anwältin des Mannes hatte diese Information dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Eilverfahrens noch vor der Abschiebung übermittelt, als die Stadt den Mann im August 2022 bereits im Abschiebegefängnis Büren festhielt. Somit lag die Information auch der Stadt vor. Lediglich der vollständige Arbeitsvertrag fehlte noch. Dieser hätte problemlos angefordert werden können.

War der Vorgriffserlass überhaupt ein Vorgriffserlass?

Die Ausreden der Stadtverwaltung Gelsenkirchen im Stadtrat zeigen beispielhaft auf, wie leicht es die nordrhein-westfälischen Ausländerbehörden hatten, den völlig unzureichenden Vorgriffserlass der Landesregierung für das „Chancen-Aufenthaltsrecht“ zu ignorieren und doch weiter abzuschieben. Während Bundesländer wie etwa Niedersachsen in ihren Vorgriffsregelungen für das „Chancen-Aufenthaltsrecht“ konkrete Ermessensduldungen für die Übergangszeit bis zum Inkrafttreten des Gesetzes vorsahen, war der NRW-Erlass sehr allgemein und sehr dürftig, und er kam sehr spät. Erst kam unter schwarz-gelb über Monate gar kein Vorgriffserlass, dann unter schwarz-grün einer, der in der Praxis der Beratungsstellen teilweise belächelt wurde. In der Praxis hat dies dazu beigetragen, dass unwillige Ausländerbehörden weiter abschieben konnten und gar Familien – wie hier – trennten. In Fachkreisen wurde zwischenzeitlich sogar zynisch gescherzt: „Welcher Erlass? Welchen Erlass meinst du aus NRW?“ Denn auf die Wirkungen dieses Schreibens der Landesregierung konnten sich Betroffene nicht verlassen.

Verändertes Bleiberecht

Mittlerweile ist das Warten auf das neue Bleiberecht Geschichte. Ende Dezember 2022 sind der neue § 104c AufenthG und die veränderten §§ 25a,b AufenthG nun Gesetz geworden. Das Abschiebungsreporting NRW wird genau beobachten, ob in NRW auch jetzt noch weiter Menschen abgeschoben werden, die das neue Bleiberecht beantragen könnten. Interessensverbände wie der Deutsche Landkreistag hatten ja bereits relativ zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens sehr deutlich gemacht, dass sie wenig vom neuen Gesetz halten. Und die Ausgestaltung des Gesetzes sowie die Umsetzung bieten immer noch viel Spielraum für die Verhinderung von Bleiberechten.

Kontakt:
Abschiebungsreporting NRW
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Sebastian Rose
Telefon 0221 / 972 69 32
Mobil 01575 / 40 35 862
E-Mail: rose(at)abschiebungsreporting.de
Twitter: @abschiebung_nrw

Mehr:
Antwort der Stadt Gelsenkirchen auf Anfrage im Stadtrat vom 17. Januar 2023 (Drs. 20-25/4225)

Link zur Sitzung des Stadtrates der Stadt Gelsenkirchen am 09. Februar 2023

Familientrennung: Stadt Gelsenkirchen schiebt Mann nach Nigeria ab, Report Abschiebungsreporting NRW vom 17. November 2022


Rückblick Medienberichte:
„Perfide Abschiebung?“ Stadt Gelsenkirchen scharf kritisiert, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 28. November 2022 (Print v. 29. November 2022)


Gelsenkirchen: Das steckt hinter umstrittener Abschiebung, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 07. Dezember 2022