Zentrale Ausländerbehörden Bielefeld und Essen sollen in Handys schnüffeln, um Abschiebungen vorzubereiten

Während der Sommerferien 2024 und damit lange vor der aktuellen, vielfach unsachlichen Diskussion über Abschiebungen hat das Ministerium für Flucht und Integration (MKJFGFI NRW) einige bisher nicht veröffentlichte Erlasse im Bereich Abschiebungen veröffentlicht und damit für mehr Transparenz gesorgt. Teils sind diese Erlasse schon mehrere Monate alt. Das Abschiebungsreporting NRW ordnet sie in den nächsten Tagen ein. Weitere Änderungen in der Landespraxis sind absehbar. Am Mittwoch debattiert der Landtag 130 Minuten über politische Schlussfolgerungen nach dem Anschlag von Solingen.

Bereits im September 2023 hat das MKJFGFI den Zentralen Ausländerbehörden (ZABen) Bielefeld und Essen per Erlass Zuständigkeiten in Sachen Datenträgerauswertung von Menschen übertragen, die später abgeschoben werden sollen. Diese Kompetenzen sind im Aufenthaltsrecht geregelt. Bisher war dafür in Nordrhein-Westfalen die Landespolizei zuständig, nun sollen sich die kommunalen Ausländerbehörden an diese beiden ZABen wenden. Dabei ist die ZAB Bielefeld regional für die Regierungsbezirke Arnsberg, Detmold und Münster zuständig, die ZAB Essen für die Regierungsbezirke Düsseldorf und Köln.

Im Erlass heißt es, die beiden Behörden sollen die kommunalen Ausländerbehörden sowie die übrigen Zentralen Ausländerbehörden bei der „Identitätsklärung ausreisepflichtiger Personen“ unterstützen. Damit ist gemeint, dass die Beamt:innen in den privaten Nachrichten und Accounts der Betroffenen schnüffeln dürfen sollen, um deren Staatsangehörigkeit und personenbezogene Daten herauszufinden, die benötigt werden, um eine Person abschiebbar zu machen. Die Auswertung der Daten von mobilen Geräten ist eine Zwangsmaßnahme, die bereits seit einigen Jahren im Aufenthaltsgesetz vorgesehen ist, mit dem Hau-Ab-Gesetz 3 („Rückführungsverbesserungsgesetz“) wurden die dazugehörigen Regeln erst im Februar 2024 erweitert. Der Deutsche Anwaltverein, die Kirchen und der Bundesdatenschutzbeauftragte hatten dies in einer Anhörung im Bundestag kritisiert.

Auf Smartphones findet sich heutzutage oft das ganze Leben einer Person: intime Informationen über ihre sozialen Kontakte, über Krankheiten, über ihre sexuelle Orientierung, Fotos und vieles mehr. Will der Staat auf diese sensiblen Daten zugreifen, befinden wir uns in einem äußerst grundrechtssensiblen Bereich. Doch um mehr abschieben zu können, erachten Gesetzgeber und staatliche Stellen selbst dies als legitim.

Ein:e Sprecher:in des MKJFGFI NRW erklärte zu dem Erlass auf Anfrage gegenüber dem Abschiebungsreporting NRW:

(…)„Die Auswertung von Datenträgern unterliegt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und ist nur zulässig, soweit sie für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat nach Maßgabe des § 48 Abs. 3 AufenthG erforderlich ist und der Zweck der Maßnahme nicht durch mildere Mittel erreicht werden kann. Die Datenträgerauswertung steht regelmäßig erst am Ende einer Reihe von Maßnahmen zur Identitätsklärung. Den Ausländerbehörden obliegt die gesetzliche Aufgabe der Identitätsklärung u.a. bei vollziehbar ausreisepflichtigen Personen, diese Aufgabe haben sie unter Ausschöpfung der ihnen durch das Gesetz zur Verfügung gestellten Mittel zu erfüllen.
(…)
Von der Möglichkeit der Datenträgerauswertung wird nur in Einzelfällen Gebrauch gemacht.(…)“

Stadt Essen schafft Stabsstelle Datenforensik

Ob die Zwangsmaßnahme tatsächlich nur in Einzelfällen angewendet wird und wie es um die Verhältnismäßigkeit steht, ist fragwürdig. Im Jahresbericht 2023 des zuständigen Fachbereichs (S. 25) schreibt die Stadt Essen, die neu gegründete „Stabsstelle Datenforensik“ gewinne „im Rahmen der Identitätsklärung im Hinblick auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen immer mehr an Bedeutung“. So wurde die ZAB Essen in den ersten dreieinhalb Monaten ihrer Zuständigkeit bereits 30 mal beauftragt, Datenträger zu durchsuchen. Erst im Juni 2024 war beschlossen worden, das Personal der ZAB Essen bis Ende 2024 deutlich um 21 Stellen aufzustocken. Als Grund wurde der Aufwuchs der Kapazitäten in den Landeslagern im Regierungsbezirk Düsseldorf genannt. Alle Kosten für die fünf Zentralen Ausländerbehörden in NRW werden vollumfänglich aus dem Landeshaushalt getragen. Im Landeshaushaltsentwurf für 2025 ist für alle fünf ZABen ein weiterer Aufwuchs der Mittel um 2,9 Mio. EUR auf rund 54,9 Mio. EUR vorgesehen.

Welche forensische Software genutzt wird, bleibt geheim

Wie das Portal Netzpolitik.org darstellt, wurde in Nordrhein-Westfalen auch im Bereich Forensik-Werkzeuge investiert. Wie hoch die Kosten dafür sind und welche Unternehmen profitieren, soll aber geheim bleiben.

Betroffenen steht es offen, angeordnete Datenträgerauswertungen rechtlich auf ihre Recht- und Verhältnismäßigkeit überprüfen zu lassen. Dies wird auch erforderlich sein. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte führt etwa Musterklagen zu Handyauswertungen, die auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schon während der Asylverfahren durchführt.


Kontakt:
Abschiebungsreporting NRW
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Köln
Sebastian Rose
Telefon 0221 / 972 69 32
Mobil 01575 / 40 35 862
E-Mail: rose@abschiebungsreporting.de
www.abschiebungsreporting.de

Mehr:
Hintergrundrecherche: Zentrale Ausländerbehörden Nordrhein-Westfalen, Abschiebungsreporting NRW, 26. April 2023