Nachdem Ungarn in den vergangenen Jahren wiederholt vom Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen seiner menschen- und europarechtswidrigen Verstöße gegen Asylgesetze – zuletzt im Juni 2024 zu einer Strafe von 200 Millionen Euro und einem Zwangsgeld von einer Million Euro täglich – verurteilt worden ist, planen nordrhein-westfälische Behörden still und leise dennoch wieder Abschiebungen in das Land. Ein 30-jähriger Afghane ist nun bereits seit einem Monat im Abschiebegefängnis Büren inhaftiert, von wo er am kommenden Montag (10.02.25) nach Budapest abgeschoben werden soll. Grundlage für die Abschiebung ist die Dublin-III-Verordnung. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und das Verwaltungsgericht Düsseldorf sind der Ansicht, dass keine systemischen Mängel im Asylsystem Ungarns vorherrschen würden bei Personen, die auf Grundlage der Dublin-III-Verordnung abgeschoben werden. Dem Mann drohe laut Gericht nicht die „beachtliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss“.
Das Düsseldorfer Gericht hat in dieser Woche einen weiteren Eilantrag der Anwältin des Mannes abgelehnt und dabei auch eine geltend gemachte Nierenerkrankung sowie den Umstand, dass er bei einem Abschiebeversuch am 7. Januar 2025 am Düsseldorfer Flughafen einen dissoziativen Krampfanfall erlitten hat, als ohne Relevanz für seine Entscheidung zurückgewiesen. Das Gericht geht bei ihm von einem „gesunden und erwerbsfähigen“ Mann aus.
Paradox ist diese Entscheidung schon deshalb, weil dem Mann nach geltender Rechtslage und -praxis in Ungarn schon bei seinem Aufenthalt dort der konkrete Weg in ein Asylverfahren effektiv versperrt war, und dass, obwohl er legal mit einem ungarischen Visum eingereist war. Daher flüchtete er nach Deutschland. Hintergrund dafür ist das im Jahr 2020 in Ungarn implementierte sogenannte „Botschaftsverfahren“, bei dem Schutzsuchende sich bereits vor einem Schutzgesuch in Ungarn an die ungarischen Botschaften in Belgrad oder Kiew wenden sollen. Die Nicht-EU-Staaten Serbien und Ukraine sind allerdings für Schutzsuchende nicht sicher. Nur wenn im Anschluss eine legale Einreisemöglichkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens bestätigt wird, kann tatsächlich ein Schutzgesuch in Ungarn gestellt werden. Dieses vom Europäischen Gerichtshof im Juni 2023 als Verstoß gegen Ungarns Verpflichtungen aus dem Unionsrecht erachtete „Botschaftsverfahren“ kennt zudem nur wenige Ausnahmen, um bei einem schon bestehenden Aufenthalt in Ungarn in ein reguläres ungarisches Asylverfahren zu kommen, die im Falle des afghanischen Mannes allerdings nicht zutrafen. Er konnte sich während seines Aufenthalts in Ungarn also gar nicht an die ungarische Asylbehörde wenden. Nun fürchtet er nach der Abschiebung nach Ungarn eine direkte Kettenabschiebung nach Afghanistan ohne vorheriges Asylverfahren oder in die Türkei, von wo aus er nach Ungarn einreiste.
Dass solche Befürchtungen nicht unbegründet sind, zeigt der Blick in die überwiegende Rechtsprechung deutscher Verwaltungsgerichte. So schreibt etwa das Verwaltungsgericht Minden in einem Urteil vom 10. Oktober 2024 zu Ungarn (Az. 12 K 2146/24.A):
„Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln wird solchen Asylbewerbern voraussichtlich kein Zugang zum Asylverfahren in Ungarn gewährt, die dort bislang keinen Asylantrag gestellt haben. Es droht ihnen vielmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entgegen dem in Art. 33 Abs. 1 GFK und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) eine Abschiebung in das Herkunftsland ohne vorherige Entscheidung über den Asylantrag.“
Trotz dieser Fakten gehen BAMF und Verwaltungsgericht Düsseldorf davon aus, dass genau in dem Fall des afghanischen Mannes eine realistische Möglichkeit bestehe, nach der Rückkehr nach Ungarn das in Deutschland beantragte Schutzgesuch in Ungarn fortzuführen. Dabei liegt nicht einmal eine individuelle Zusicherung der ungarischen Behörden vor, dass genau in diesem Fall ein Zugang zu einem fairen Asylverfahren und europarechtskonforme Aufnahmebedingungen garantiert würden.
Der Mann war vor der Machtübernahme der Taliban Uni-Dozent in Afghanistan und hatte sich dort auch öffentlich kritisch geäußert. Er sucht Schutz vor einer Abschiebung nach Afghanistan. Ein erster Abschiebeversuch am 7. Januar 2025 aus dem Landeslager ZUE Neuss endete gewaltvoll und anschließend in einem Düsseldorfer Krankenhaus. Anschließend wurde gegen ihn Abschiebungshaft verhängt und er befindet sich seither im Abschiebegefängnis Büren.
Sebastian Rose, Abschiebungsreporting NRW, Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.:
„Wir fordern das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf, im Falle des Afghanen das Selbsteintrittsrecht auszuüben und ein nationales, faires Asylverfahren einzuleiten. Sollte es doch zu der Abschiebung nach Ungarn kommen, werden wir gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen genau prüfen, ob der Mann eine realistische Chance auf ein faires Asylverfahren in Ungarn erhält und ob menschenrechtliche Minimalstandards im Verfahren und bei der Unterbringung und Versorgung gewährleistet werden. Das Vertrauen in jegliches Handeln ungarischer Behörden ist durch die jahrelangen gut dokumentierten Rechtsverstöße und die regelmäßigen höchstrichterlichen Verurteilungen bis ins Mark erschüttert.“
Kontakt
Abschiebungsreporting NRW
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Köln
Sebastian Rose
Telefon 0221 / 972 69 32
Mobil 01575 / 40 35 862
E-Mail: rose (at) abschiebungsreporting.de
Hintergrund
Nach Angaben der Bundesregierung auf Bundestagsanfragen gab es in den Jahren 2018 bis 2020 bundesweit keine als Überstellungen bezeichnete Abschiebungen nach Ungarn auf Grundlage der Dublin-III-Verordnung, im Jahr 2021 gab es eine, im Jahr 2022 acht, im Jahr 2023 sechs und im 1. Halbjahr 2024 eine solche Abschiebung.
Mehr
Ungarns Abschottung um jeden Preis, NEWS von PRO ASYL, 21. Januar 2025
Informationen zum o.g. in Ungarn dem Asylverfahren vorgelagerten Visumverfahren bei den ungarischen Botschaften in Belgrad und Kiew und Ausnahmen davon finden sich in einer Übersicht des Hungarian Helsinki Committees.
Die Liste der Verurteilungen Ungarns vor dem Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist lang. Nachfolgend findet sich eine unvollständige Übersicht über zentrale Gerichtsentscheidungen der beiden Gerichte.
Europäischer Gerichtshof:
Europäischer Gerichtshof, Asylpolitik: Ungarn wird verurteilt, einen Pauschalbetrag von 200 Mio. Euro und ein Zwangsgeld von 1 Mio. Euro für jeden Tag des Verzugs wegen Nichtdurchführung eines Urteils des Gerichtshofs zu zahlen, Presseinformation vom 13. Juni 2024
Europäischer Gerichtshof, Ungarn hat die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, übermäßig erschwert, Presseinformation vom 22. Juni 2023
Europäischer Gerichtshof, Hungary has failed to fulfil its obligations under EU law in the area of procedures for granting international protection and returning illegally staying third-country nationals, Presseinformation vom 17. Dezember 2020
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte:
Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wegen Verstoßes Ungarns gegen das Verbot der Kollektivausweisung, 19. September 2024