Projekt Abschiebungsreporting NRW: Ein Zwischenstand

Das Projekt „Abschiebungsreporting NRW“ hat im August 2021 die Arbeit aufgenommen. Ziel der im Grundrechtekomitee angesiedelten Dokumentationsstelle ist es, besonders inhumane Aspekte der Abschiebungspraxis in NRW an Einzelfällen öffentlich zu machen und besondere Härten bei Abschiebungen in den Blick zu nehmen. Keine leichte Aufgabe.

Acht Monate später ist klar, was schon zu vermuten war: Abschiebungen sind immer inhuman und menschenrechtlich abzulehnen. Es gibt keine Abschiebungen ohne besondere Härten.
Dies beweisen alle uns bisher gemeldeten Berichte. Nach Daten der Landesregierung wurden 2021 2.903 Menschen aus Nordrhein-Westfalen abgeschoben. Vor der Pandemie waren es jährlich mehr als doppelt so viele.

Viele Abschiebungen aus NRW erfolgen in Länder des Globalen Südens, etwa nach Bangladesch oder Pakistan. Einen besonderen Fokus legt die Landesregierung zudem auf Abschiebungen nach Ghana, Nigeria und Guinea. Erst jüngst hat Flüchtlingsminister Joachim Stamp bei einem Besuch in Ghana ein sogenanntes Rückkehr- uund Reintegrationszentrum eröffnen lassen.

RIGIDE ABSCHIEBUNGSPRAXIS IN NORDRHEIN-WESTFALEN

Was können wir nach den ersten Monaten Projektarbeit berichten? Uns haben seit Projektbeginn rund 40 Berichte über Abschiebungen aus verschiedenen Regionen von NRW erreicht, die wir näher geprüft haben.

Auffällig ist, dass nur fünf Prozent der uns erreichenden Berichte Menschen betreffen, die noch in Landesunterkünften in NRW leben. Berichte zur mitunter langjährigen Landesunterbringung in großen Sammelunterkünften in NRW legen mögliche Ursachen nahe: Die dort untergebrachten Menschen sind oft noch schlechter an eine soziale Infrastruktur oder solidarische Gemeinschaft angebunden, und haben teilweise keine anwaltliche Vertretung.

In Kommunen sieht es dagegen anders aus: dort erleben Nachbar*innen, Mitschüler*innen und viele andere ganz konkret, was Abschiebungen in NRW bedeuten. Ein eindrückliches Beispiel erlebte im Februar 2022 die Dorfgemeinschaft in Bösensell im Kreis Coesfeld: Die Schüler*innen des Dorfes befanden sich gerade auf dem Schulweg, als ein Gefangenentransporter der Zentralen Ausländerbehörde Coesfeld eine sechsköpfige Familie, darunter mehrere schulpflichtige Kinder, zur Abschiebung nach Aserbaidschan abholte. Dies war für alle Beteiligten, aber vor allem für die vielen Kinder, eine traumatische Erfahrung.

KINDERRECHTE VERLETZT

Besonders bedrückend ist die Abschiebungspraxis für die vielen beteiligten Schüler*innen. Während in Österreich eine breite Diskussion über Fragen des Kindeswohls bei Abschiebungen an Fahrt gewonnen hat, ignorieren nordrhein- westfälische Behörden das Thema. Der Kreis Siegen-Wittgenstein nahm im Februar 2022 eine dreifache Mutter beim Termin in der Ausländerbehörde in Abschiebungshaft, Ehemann und die Kinder blieben zurück.

In Schwerte holten die Beamt*innen der Zentralen Ausländerbehörde Unna im Januar 2022 ein sechsjähriges Mädchen nachts mit seinen Eltern aus dem Schlaf, um sie nach Bangladesch abzuschieben. In die Wohnung kam die Behörde mithilfe eines Schlüsseldienstes (siehe Kasten). Obwohl das Mädchen, das als Säugling nach Deutschland kam und in Schwerte eingeschult wurde, sich in der Stresssituation auf dem Weg zum Flughafen sogar übergab, brachen die Beamt*innen die Abschiebung nicht ab. Die Bitte der Landesregierung aus einem Erlass von 2016 an die Ausländerbehörden, in der Nachtzeit keine Kinder unter 14 Jahren abzuschieben, verkommt zum nichtssagenden Papier.

UNSERE KRITIK KOMMT AN

Die vier bisher selbst recherchierten und veröffentlichten Berichte des Projekts „Abschiebungsreporting NRW“ zeigen beispielhaft auf, wie die Skandalisierung einzelner Abschiebungen kommunalpolitische Diskussionen erzeugen kann und damit einen Beitrag zur landespolitischen Diskussion um Abschiebungen leistet.

Als wir im Herbst 2021 über die Abschiebung dreier Rom*nja nach über 20 Jahren Leben in Gelsenkirchen in den Kosovo berichteten, kamen wichtige Fragen auf: Wie können aus Deutschland weiterhin Rom*nja abgeschoben werden, als gäbe es keine historische Verantwortung vor dem Hintergrund des Völkermordes an hunderttausenden Sinti*zze und Rom*nja? Wie gehen Abschiebebehörden mit besonders verletzlichen Personen um?

Unter den Abgeschobenen befand sich eine in NRW geborene, 20-jährige, geistig schwer behinderte Romni, die in Gelsenkirchen 14 Jahre die Förderschule besuchte. Kurz nach dem Schulabschluss erfolgte die Abschiebung. Im Stadtrat verstieg sich die Stadtverwaltung auf die These, ein Förderschulabschluss reiche in Deutschland nicht aus für ein Bleiberecht: eine menschenrechtlich untragbare Position, aber Ergebnis einer rein auf vermeintliche Leistungsfähigkeit getrimmten aufenthaltsrechtlichen Gesetzgebung und Anwendungspraxis.

EINSCHÜCHTERUNGSVERSUCH AUS UNNA SCHLÄGT FEHL
Im März 2022 mussten wir uns anwaltlich gegen eine Abmahnung und Unterlassungserklärung der Kreisverwaltung Unna wehren. Der Kreis zeigte sich unzufrieden mit unserer Berichterstattung über seine Abschiebungspraxis und versuchte, uns durch juristischen und finanziellen Druck einzuschüchtern. Innerhalb kürzester Zeit konnten wir durch Spenden unsere Anwaltskosten wieder ausgleichen. In Schwerte und im gesamten Kreis Unna hat der Vorgang eine intensive Debatte um die dortige Abschiebungspraxis und demokratische Kultur ausgelöst. Das heißt, unser Projekt wirkt!

Autor*in: Sebastian Rose
Der Text ist auch erschienen in den INFORMATIONEN #02 Mai 2022 des Komitees für Grundrechte und Demokratie e.V. (S. 6)