News #6 zu Abschiebungen und zur Abschiebungspraxis in Nordrhein-Westfalen

Wir stellen in unregelmäßigen Abständen einen Newsletter mit unseren Reports, mit Beiträgen, Presseberichten, Materialien, Projekten/Terminen (Nordrhein-Westfalen und Umgebung) rund um das Thema Abschiebungen und Abschiebungspraxis in Nordrhein-Westfalen zur Verfügung.
(Wir bitten euch, uns zu informieren über relevante Inhalte, die wir mit aufnehmen könnten.)

Viel ist passiert in den letzten Wochen vor der Sommerpause, aber auch im Sommer selbst. Darüber berichten wir heute. Nordrhein-Westfalen hat eine neue Landesregierung. Ende Juni 2022 wählten die Abgeordneten des Landtages erneut Hendrik Wüst an die Spitze einer nun schwarz-grünen Landesregierung. Die Wahl Wüsts zum Ministerpräsidenten im Düsseldorfer Landtag nutzten Aktivist:innen des Bündnisses „Abschiebegefängnis verhindern – in Düsseldorf und überall“, um gegen die weiterhin intransparenten Pläne für ein zweites Abschiebegefängnis am Standort Düsseldorf zu protestieren (sh. auch Bericht der Rheinischen Post). Denn: der Koalitionsvertrag von CDU und Bündnis 90/ Die Grünen verhält sich nicht zum Thema Abschiebegefängnis, sondern enthält lediglich wenige allgemeine Ausführungen zum
Thema Abschiebehaft (Koalitionsvertrag NRW 2022, S. 120).

Die neu für die Themen Flucht und Integration zuständige Ministerin Josefine Paul tut es ihrem Vorgänger Joachim Stamp bisher gleich: es gibt keinerlei Infos für die Öffentlichkeit, auch die Presse wird nicht mit Infos zu einem möglichen zweiten Abschiebegefängnis in NRW versorgt. Aus diesem Grund hat das Bündnis Abschiebegefängnis verhindern – in Düsseldorf und überall“ nun gemeinsam mit der Transparenzplattform „Frag den Staat“ eine Anfrage gestartet, um Licht in das Dunkel der Planungen der alten und der neuen Landesregierung zu bringen.

Reports
Stadt Köln schiebt suchterkrankten Mann während laufender Substitutionsbehandlung ab und nimmt dessen Tod billigend in Kauf
Unser jüngster Report hat die Abschiebung eines Mannes nachgezeichnet, der sich in einer Substitutionsbehandlung befand, um eine Drogenabhängigkeit zu überwinden. Die Stadt Köln unterbrach die lebensnotwendige Behandlung des Mannes abrupt, in dem sie ihn beim Besuch der Ausländerbehörde festnahm, für einige Tage in Abschiebehaft schickte und schließlich abschob. Nur dank der Solidarität und
Spendenbereitschaft zahlreicher Menschen konnte der Mann nach der Abschiebung eine medizinische Notfallversorgung und Stabilisierung erhalten. Der Stadt Köln und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das dem Mann keinen Schutzstatus zugesprochen hatte, waren dabei bekannt, dass im dem Zielland der Abschiebung eine Substitutionsbehandlung sogar gesetzlich verboten ist, sodass eine Fortsetzung unmöglich war.
Der Report zeigt beispielhaft auf, welche Menschenrechtsverletzungen eine Kommune in Kauf nimmt, um die Abschiebung eines ehemals straffällig gewordenen Mannes ohne Kompromisse durchzusetzen. Die Sozialbehörden hatten dem Mann eine Eingliederungshilfe bewilligt, wodurch er engmaschig sozialarbeiterisch begleitet wurde und sein früheres Leben hinter sich ließ. Doch die Ausländerbehörde
machte ihm einen Strich durch die Rechnung.

Weitere Abschiebungen aus NRW
Verein Refugees4Refugees dokumentiert jüngste Sammelabschiebungen nach Nigeria
Aktivist:innen des Vereines Refugees4Refugees dokumentieren regelmäßig die Sammelabschiebungen nach Nigeria, an denen sich NRW oft beteiligt oder aber seine Flughäfen als Startpunkt zur Verfügung stellt. Die Dokumentationen zeigen ein hohes Maß an Gewaltanwendung auf, das für die Durchsetzung dieser Abschiebungen aufgewendet und in Kauf genommen wird. Viele Betroffene werden vorher in Abschiebehaft genommen. Berichtet wurde zuletzt von der Sammelabschiebung am 14. Juni 2022 vom Flughafen Düsseldorf:
(…)“According to the family, the German police crashed into their apartment in NRW at about 1am on Tuesday June 14. With violent mishandling and Handcuff they were forced out of their apartment into a Police vehicle that conveyed them to the airport from where they were deported in the most inhuman condition with children exposed to such scene of massive police violence and many affected persons and even their parents onboard.“(…) (hier und hier)
Weitere Berichte gehen auf die Sammelabschiebungen am 12. Juli 2022 vom Flughafen München und am 10. August 2022 vom Flughafen Hannover ein.

Kreis Coesfeld schiebt Mann mit starker Sehbehinderung nach Nigeria ab
Wie die Ruhr Nachrichten berichten, schob der Kreis Coesfeld Anfang Juli 2022 einen Mann aus Nordkirchen nach Nigeria ab, der 2015 nach Deutschland flüchtete. Durch seinen Albinismus habe der Mann eine starke Sehbehinderung mit einer Sehkraft von nur rund 20 Prozent, die sich nicht behandeln lasse. Er biss sich dennoch in Deutschland durch und arbeitete bereits seit 2019 bei einem Logistikunternehmen. Die Agentur für Arbeit hatte zuletzt sogar einen Zuschuss in Höhe von 4.000 Euro für neue Maschinen bewilligt, damit der Mann im Betrieb noch besser arbeiten könnte. Das Leben des Mannes in Deutschland wurde nun jäh abgebrochen. Sein Chef erfuhr zunächst nichts, sondern ging davon aus, dass sein Mitarbeiter krank sei. Erst über die Pfarrcaritas Nordkirchen erfuhr er von der Abschiebung. Alle Beteiligten sind sauer auf den Kreis Coesfeld.
Auch dieser Mann hätte sicherlich von den bald in Kraft tretenden Änderungen im Aufenthaltsrecht rasch profitieren können. Der Anfang Juli 2022 noch fehlende Vorgriffserlass der Landesregierung wurde nun auch ihm zum Verhängnis.

Stadt Köln lässt 9-Jährige bei Abschiebung der eigenen Familie dolmetschen
Der Kölner Stadt Anzeiger berichtete im Juni 2022 über die Abschiebung einer fünfköpfigen Familie nach Albanien. Weil die Mutter sich wehrte, fesselten die Behörden sie und ihren Ehemann vor den drei Kindern (9, 7, 4 Jahre). Da die Ausländerbehörde keine Sprachmittlung zur Abschiebung mitbrachte, musste die 9-jährige Tochter für ihre Eltern dolmetschen, eine unerträgliche Situation für das Kind. Zwei der Kinder besuchten bereits die Schule. Eltern der Schule reagierten empört, lebte die Familie doch bereits seit 2015 in Deutschland und die Kinder somit praktisch ihr ganzes Leben. Ein Spendenaufruf sammelt Geld zur Unterstützung.

Unter anderem diese neuerliche kindeswohlgefährdende Abschiebung in Köln war Anlass einer Debatte in den Gremien des Stadtrates. Schließlich beschloss der Integrationsrat einstimmig, dass die Verwaltung bis Ende 2022 „Maßgaben zur Ermittlung und Sicherstellung des Kindeswohls bei Entscheidung zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen“ erarbeiten solle. Dabei sollen auch die Selbstverpflichtungen der Stadt Köln u.a. aus der Eigenschaft als „Kinderfreundliche Kommune“ und als „Sicherer Hafen“ berücksichtigt werden. Auch soll geprüft werden, ob „bei Abschiebungen, von denen Minderjährige betroffen sind, obligatorisch das Jugendamt mit seiner Fach- und Sachkenntnis hinzugezogen werden und eine individuelle Stellungnahme abgewartet werden kann“. (Auszug aus dem Entwurf der Niederschrift der Sitzung des Integrationsrates vom 16.08.2022)

Verhinderte Abschiebungen
Kreis Steinfurt: Abschiebung eines Mannes nach Sri Lanka gestoppt: nach über 3 Wochen Abschiebehaft
Der Internationale Menschenrechtsverein Bremen e.V. berichtete über die drohende Abschiebung eines Mannes nach Sri Lanka, die schließlich Ende Juni 2022 vorläufig gestoppt werden konnte. Der Mann befand sich zu dem Zeitpunkt auf Antrag des Kreises Steinfurt bereits über drei Wochen in Abschiebehaft. Auch das Abschiebungsreporting NRW hat öffentlich auf die drohende Abschiebung des Folteropfers aufmerksam gemacht.
Weitere Berichte des IMRV Bremen hier und hier.

Kreis Viersen wollte 57-jährigen Christen in den Iran abschieben und von
deutscher Ehefrau und Stiefsohn trennen
Warum kann ein Visumantrag für den Ehegattennachzug im 21. Jahrhundert nicht einfach per E-Mail gestellt werden, fragt zurecht die Westdeutsche Zeitung? Weil das Ordnungsrecht und die Abschreckungsziele im Aufenthaltsrecht es bisher so wollen, lässt sich antworten. Was war geschehen?
Der Kreis Viersen ließ im Juni 2022 um 6 Uhr morgens einen 57-jährigen iranischen Christen in dessen Schlafzimmer festnehmen, im Beisein seiner deutschen Ehefrau und deren minderjährigem Sohn. Ein Amtsgericht ordnete Abschiebehaft an. Ziel der Maßnahme: die Vorbereitung der Abschiebung des Mannes in den Iran, um ihn zur Nachholung eines Visumverfahrens zwecks Ehegattennachzugs bei der Deutschen
Botschaft Teheran zu zwingen. Der Asylantrag des Mannes war zuvor abgelehnt worden.

Rund eine Woche verbrachte der Mann in Abschiebehaft. Viele Menschen wurden rasch öffentlich und nichtöffentlich aktiv. Die Abschiebung wurde schließlich zunächst gestoppt. Auch das Abschiebungsreporting NRW forderte den Stopp der geplanten Familientrennung, nachdem zuvor die Rheinische Post über das Schicksal der Familie berichtet hatte: Die Nachholung eines Visumverfahrens bei der Deutschen Botschaft Teheran ist schließlich kein Behördenbesuch in der Nachbarkommune Krefeld oder eine Passbeschaffung in Kanada, sondern Christ:innen droht im Iran schwere Verfolgung. 2015 hatte ein evangelischer Pfarrer den Mann getauft. Die Westdeutsche Zeitung (hier und hier), die Rheinische Post (hier und hier) und zuletzt auch die Ruhr Nachrichten (sowie die Dorstener Zeitung und die Stimberg Zeitung) berichteten ausführlich.

Der verhinderten Abschiebung liegt eine Rechtspraxis und -lage zugrunde, die viele Menschen zur Nachholung von Visumverfahren zur Ausreise aus Deutschland zwingt, eine menschen- und familienfeindliche Praxis, die dringender Änderung bedarf.

Kreis Viersen II: Schwer erkrankte 59-Jährige kommt nach 18 Tagen Abschiebehaft frei
In der gleichen Woche der Inhaftierung des iranischen Mannes (s. oben) ließ der Kreis Viersen auch eine 59-jährige libanesische Frau inhaftieren, die mit Unterbrechungen seit 1989 in Deutschland lebt. 18 Tage musste die psychisch erkrankte und an einer schweren, behandlungsbedürftigen Augenerkrankung leidende Frau in der Abschiebehaft Ingelheim verharren, ehe sie frei kam und die Abschiebung in den Libanon vorläufig abgesagt wurde. Die Rheinische Post berichtete mehrfach (hier und hier). Einige der volljährigen Kinder der Frau sind bereits eingebürgert, andere haben eine Aufenthaltserlaubnis. Die Beziehung der Frau zu einem autistischen Enkelkind ist besonders eng: All das war für den Kreis Viersen nicht hinreichend für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, der sich
schließlich noch bestätigt sah durch die angerufenen Verwaltungsgerichte.

Die geplante Abschiebung der Frau in den Libanon steht beispielhaft für eine gesetzliche und Verwaltungspraxis, die erkrankte Menschen sowie Menschen, die aufgrund ihrer Lebensumstände nicht in der Lage sind, noch berufstätig zu sein, rigoros abschiebt und Familien auseinander reißt. Wenn schon die aktuelle Anwendungspraxis des Aufenthaltsgesetzes durch die Behörden hier aktuell keine Abhilfe schafft, so wäre es das mindeste für eine Verwaltungspraxis, den betroffenen Familien ausführlich die Option eines möglichen Härtefallverfahrens zu erläutern und ein solches ohne Repressionen und Restriktionen wohlwollend zu ermöglichen. Anders jedoch die Logik des Kreises Viersen: Man habe die Abschiebehaft drei Wochen vor dem geplanten Abschiebungsdatum vorgesehen, „auch, um der Familie die Möglichkeit zu geben, gerichtlich gegen die geplante Abschiebung vorzugehen“, so die Leiterin der Ausländerbehörde des Kreises Viersen gegenüber der Rheinischen Post.

Stadt Wesel: Abschiebung einer Familie nach über 29 Jahren in NRW verhindert
Die Rheinische Post berichtet über die verhinderte Abschiebung eines Roma-Ehepaares (66 und 57 Jahre) aus Wesel. Dank der monatelangen Unterstützung durch zwei Berufsbetreuerinnen und über ein Härtefallverfahren konnte der Aufenthalt der Familie gesichert werden, die 1993 aus dem Kosovo nach Nordrhein-Westfalen geflüchtet war. Auch hier zeigt sich, wie fatal es ist, dass NRW-Behörden die von Abschiebung bedrohten Menschen nicht regelhaft auf die Möglichkeit eines Härtefallverfahrens hinweisen, das außerhalb einer ganz engen Beratungsszene weithin unbekannt ist. Die Anfang 2021 vom Amtsgericht mit der gesetzlichen Betreuung des Ehepaares beauftragten Berufsbetreuerinnen stießen erst durch eine Internetrecherche auf die Möglichkeit der Anrufung der Härtefallkommission.

Kreis Euskirchen lässt von angedrohter Abschiebung einer georgischen Großmutter ab, die vor Krieg in Ukraine flüchtete
Wie Regierung und Behörden mit Geflüchteten aus der Ukraine umgehen, die keinen ukrainischen Pass haben, ist oft beschämend. Gerade dem Krieg entronnen, drängte der Kreis Euskirchen eine 63-jährige gehbehinderte Großmutter, die mit ukrainischer Tochter und Enkeltochter nach Nordrhein-Westfalen geflüchtet war, zur Ausreise (wir berichteten in den NEWS # 5). Das Problem aus Sicht der Behörde: die Frau hat
einen georgischen Pass, lebte aber schon über Jahre in der Ukraine.
„Wir sollten Nachweise erbringen, die belegen, dass sie schon länger in Charkiv gewohnt hat. Aber natürlich nimmt man bei einer Flucht keine Mietverträge oder Arztrechnungen mit. Also hat die Tochter versucht, nicht geflohene Nachbarn in der Ukraine ausfindig zu machen. Diese machten in der früheren Wohnung der Familie Fotos von alten Arztattesten und ähnlichen Dokumenten, mit denen wir dann nachweisen konnten, dass Mikava schon seit langer Zeit in der Ukraine gelebt hat“, berichtete die deutsche Vermieterin der Frau nun dem MiGAZIN. Nach längerem Kampf mit der Behörde konnte nun erst einmal ein befristetes Bleiberecht für die Frau erreicht werden. Ihr Kampf steht beispielhaft für den Kampf aller Menschen ohne ukrainischen Pass, die vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind und weiter um ein Bleiberecht kämpfen müssen.

Berichte von NGOs/ Presseberichte
Oberbergischer Kreis: 1/2 Jahr nach Abschiebung eines vierjährigen Mädchens nach Sri Lanka: Vater ruft verzweifelt nach Gerechtigkeit
Einige Wochen nach unserem Report über die Abschiebung eines vierjährigen Mädchens nach Sri Lanka unter Inkaufnahme einer Familientrennung vom ebenfalls sorgeberechtigten Vater berichteten der Oberbergische Anzeiger und die Oberbergische Volkszeitung, wie es dem Mädchen geht: extrem schlecht. Dazu trägt neben der desaströsen Versorgungslage und der schweren Wirtschaftskrise in Sri Lanka insbesondere der Umstand bei, dass die Kindsmutter das Kind nicht hinreichend versorgen kann. Aus diesem Grund hatte das Gummersbacher Jugendamt Monate vor der Abschiebung ein Verfahren zur Klärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung durch die Kindesmutter beim Amtsgericht eingeleitet. Trotzdem vollzog die Ausländerbehörde des Oberbergischen Kreises die Abschiebung, ohne das familiengerichtliche Verfahren abzuwarten.
Verzweifelt hat der Kindsvater, der mittlerweile mit neuer Lebenspartnerin im Kreis Minden-Lübbecke lebt, zwischenzeitlich das Oberlandesgericht Köln angerufen, um seine Rechte als Vater weiter geltend zu machen. Ohne Erfolg. Letztlich aus formalen Gründen, denn, da das Kind nicht in Deutschland ist, biete das Verfahren vor einem deutschen Familiengericht für den Kindsvater keine hinreichende Aussicht auf Erfolg mehr.
Ohrenbetäubend ist auch das Schweigen der Kreisverwaltung und der Kommunalpolitik im Oberbergischen Kreis: niemand rührt sich nach dieser Abschiebung.

Bilanz in Abschiebehaft Ingelheim: 25 von 59 rechtlichen Interventionen der Caritas Mainz führten zur Freilassung aus der Haft
Die jüngste Bilanz der in der Abschiebehaft Ingelheim Beratenden ist desaströs: 25 von 59 rechtlichen Interventionen bei Inhaftierten waren erfolgreich, wie die Caritas im Bistum Mainz auf Basis der aktuellen Auswertung eines Rechtshilfefonds für das Jahr 2021 mitteilte. Das heißt: in fast jedem zweiten Fall führte eine fundierte juristische Begleitung zur Beendigung der Abschiebehaft. Die staatlichen Stellen gewähren jedoch weiterhin keine staatlicherseits finanzierte Rechtsvertretung, sondern überlassen dies vielfach Ehrenamtlichen oder spendenbasierten Modellen.
In die Abschiebehaft Ingelheim im benachbarten Rheinland-Pfalz werden regelmäßig auch weibliche Inhaftierte aus Nordrhein-Westfalen verbracht, weil NRW weibliche Gefangene selbst nicht unterbringen kann. In den letzten Monaten sind allein uns Fälle von vulnerablen schwangeren oder psychisch erkrankten Frauen aus NRW bekannt geworden, die über Wochen in Ingelheim eingesperrt waren.

ze.tt: Wie Abschiebungen verhindert werden können
ze.tt erläutert in einem Beitrag ausführlich, wie Abschiebungen noch verhindert werden können und welche Handlungsoptionen für Aktivist:innen und begleitende Menschen bestehen. Selbst wenn es nur noch wenige Stunden bis zur Abschiebung sind, diese bereits begonnen hat oder Menschen bereits im Flugzeug sitzen, gibt es noch Handlungsmöglichkeiten.

Abschiebungen aus der Wohnung unterliegen Richtervorbehalt
Rechtsanwalt Justus Linz erläutert in einem aktuellen Beitrag für den Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. die aktuelle Praxis und Rechtsprechung zur Frage, welche Voraussetzungen für das Betreten bzw. Durchsuchen von Wohnungen bei Abschiebungen gelten. Gerichtsentscheidungen aus Berlin und Hamburg haben der Diskussion eine neue Dynamik beschert.

Das Abschiebungsreporting NRW nimmt bei seinen Recherchen wahr, dass nordrhein-westfälische Behörden in diesem Punkt unterschiedlich verfahren. Einige Behörden holen die erforderlichen Durchsuchungsbeschlüsse bei den Verwaltungsgerichten ein, andere unterlassen dies und gehen trotzdem in die Wohnungen.

Gesetzgebung
Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts
Vor der Sommerpause hat die Bundesregierung Anfang Juli 2022 den ersten Gesetzentwurf der neuen Legislaturperiode im Bereich Flucht und Migration beschlossen, den Gesetzentwurf zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts (BR-Drs. 367/22). Vorgesehen ist unter anderem die Einführung eines sogenannten Chancen-Aufenthaltsrechtes wie auch die Verkürzung der Voraufenthaltszeiten bei den bisherigen Bleiberechtsregelungen nach den §§ 25a, b AufenthG. Nun sind Bundestag und Bundesrat am Ball. Es darf nach bisherigem Stand und Inhalt des Gesetzentwurfes stark bezweifelt werden, ob die mit dem Entwurf verbundenen Ziele, unter anderem die Beendigung von Kettenduldungen, erreicht werden können. Und: bestimmte Gruppen werden von der Bundesregierung ganz vergessen: so sind keine eigenen rechtlichen Verbesserungen für Kinder unter 14 Jahren vorgesehen, um früher ein Bleiberecht zu erhalten.
Auch hält es die Ampel-Regierung offenbar wie die Vorgängerin GroKo: jede Verbesserung braucht im Gegenzug eine Verschärfung. So enthält der Gesetzentwurf zugleich Verschärfungen im Bereich der Abschiebehaft, einem Bereich, der schon zum bisherigen Stand einer dringenden Bestandsaufnahme in rechtsstaatlicher Hinsicht bedürfte. Die zuständigen Ausschüsse des Bundesrates nehmen ab dem 29. August 2022 ihre Beratungen zum Gesetzentwurf auf.

Rechtsprechung/ Erlasse
Vorgriffserlass zum „Chancen-Aufenthaltsrecht“ in NRW
Die neue schwarz-grüne Landesregierung hat endlich das gemacht, wozu sich die abgewählte schwarz-gelbe Landesregierung über Monate nicht im Stande sah: sie hat einen Erlass im Vorgriff auf das in einigen Monaten in Kraft tretende sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht herausgegeben. Darin teilt das neu formierte Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration den Ausländerbehörden am 15. Juli 2022 mit, dass „keine fachaufsichtlichen Einwände geltend gemacht werden, wenn Ihre Behörden Aufenthaltsbeendigungen an absehbar unter die oben aufgeführten vorgeschlagenen Neuregelungen (…) fallenden Ausländerinnen und Ausländer zunächst vorsorglich rückpriorisieren.“ Sprich: es gibt keine Einwände, wenn nicht abgeschoben wird, aber es steht den Ausländerbehörden auch frei, weiter zu machen, wie sie es für richtig halten.

Deutlich besser wäre es da gewesen, dem Vorbild des Erlasses aus Niedersachsen (Aktualisierung hier) zu folgen, der den Ausländerbehörden klare Vorgaben zur Erteilung von sogenannten Ermessensduldungen macht zur Überbrückung des mehrmonatigen Zeitraumes bis zum Inkrafttreten des neuen Bundesgesetzes.

Verwaltungsgericht Münster stoppt vorläufig Abschiebung nach Sri Lanka
Mit Beschluss vom 18. Mai 2022 hat das Verwaltungsgericht Münster die Abschiebung eines Mannes nach Sri Lanka vorläufig gestoppt. Auch dieser Mann befand sich zuvor bereits in Abschiebehaft.
In seinem Beschluss hat das Gericht anerkannt, dass bei Abschiebung nach Sri Lanka eine Verletzung von Art. 3 EMRK drohe. Als Gründe für die Entscheidung benennt das Gericht explizit die schwere wirtschaftliche Krise mit dem großem Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten sowie die politische Reaktion der Regierung auf die Massenproteste mit Erteilung eines Schießbefehls.

Der Gerichtsbeschluss sowie die andere gestoppte Abschiebung aus dem Kreis Steinfurt (sh. oben) machen deutlich, was es jetzt generell braucht, und zwar auf politischer Ebene: einen umfassenden Abschiebungsstopp nach Sri Lanka, der die Lage im Land anerkennt. Alle Verfahren von Menschen ohne festes Aufenthaltsrecht müssen neu geprüft werden, ohne die Betroffenen unter Druck zu setzen. Nicht zuletzt muss die systematische Inhaftierung in Abschiebehaft enden. Wie drängend ein faires Handeln ist, zeigt die jüngste Statistik aus dem Bundestag (BT-Drs. 20/3130): demnach wurden im 1. Halbjahr 2022 bundesweit 26 Menschen nach Sri Lanka abgeschoben, nach 56 Menschen im Jahr 2021.

Veranstaltungen
Di., 30. August, 19 Uhr:
„Runder Tisch Würde für alle“, Wuppertal
Im Gemeindehaus der Freien evangelischen Gemeinde
Unterdörnen 77
42283 Wuppertal
Zu Gast ist das „Abschiebungsreporting NRW“. Berichten werden wir über die rigide Abschiebungspraxis in Nordrhein-Westfalen. Die Westdeutsche Zeitung berichtete diesbezüglich zu den aktuellen Entwicklungen in Wuppertal. Um Anmeldungen bei der Freien evangelischen Gemeinde wird gebeten.

NEWS #6 als pdf

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