Lager Rees II: Überwachung, Inhaftierung, Abschiebung

Wie die Zentrale Ausländerbehörde Essen einen psychisch angeschlagenen Rom nach Serbien abschob

„Wir werden alles unternehmen, um Abschiebungen aus Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sowie Krankenhäusern und psychiatrischen Einrichtungen heraus zu vermeiden“, heißt es im Koalitionsvertrag der schwarz-grünen Landesregierung. Aber was, wenn du direkt nach deiner Entlassung aus stationärer psychiatrischer Behandlung kontrolliert, festgesetzt und in Abschiebehaft genommen wirst? Wenige Tage später findest du dich im serbischen Winter wieder, ohne Winterkleidung, ohne persönliche Sachen?

So ist es im Dezember 2022 einem 52-jährigen Rom ergangen. Der Mann war im Lager Rees II untergebracht, einer der sogenannten Zentralen Unterbringungseinrichtungen des Landes Nordrhein-Westfalen im Kreis Kleve. Nach wenigen Tagen im Abschiebegefängnis Büren schob die Zentrale Ausländerbehörde Essen (ZAB) ihn nach Serbien ab.

Überwachung in Landeslagern als Grundlage für Abschiebungen

Aus den Unterlagen des Mannes, die dem Abschiebungsreporting NRW vorliegen, wird deutlich, wie immens Geflüchtete, die in den Lagern NRWs untergebracht sind, überwacht werden: So wird seitens der ZAB Essen in dem vom Gericht zitierten Haftantrag für die Abschiebehaft angeführt, der Mann habe sich in drei Zeiträumen im Herbst 2022 über jeweils mehrere Tage hinweg nicht in der Unterkunft aufgehalten und damit gegen die auferlegte Wohnsitzverpflichtung verstoßen. Die Tage listet der Haftantrag auf das genaueste auf. Die Anwesenheitszeiten in den Lagern werden in NRW zentral über ein IT-System vom Personal erfasst. Unter anderem damit wurde die Inhaftierung des Mannes begründet. Dass der Mann mehrere enge Verwandte in NRW hat, findet in dem Antrag hingegen keinerlei Erwähnung. Das Lagerregime verbietet Geflüchteten den Umzug zu engsten Verwandten und kriminalisiert selbst Besuchszeiten.

Weiter geht aus den Unterlagen des Mannes hervor, was der eigentliche Plan der ZAB Essen war: Die Behörde wollte den Mann bereits bei der „Taschengeldausgabe“ – sprich der Auszahlung von Sozialleistungen – in Rees II Anfang Dezember 2022 festnehmen. Dabei befand sich der Mann zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Tagen in stationärer psychiatrischer Behandlung, was der Behörde offenbar nicht bekannt war. Die Ausgabe des sogenannten Taschengeldes ist in den Lagern für Asylsuchende ein Instrument der Kontrolle. So können ebenfalls An- und Abwesenheiten festgestellt werden.

Abschiebehaft direkt nach stationärer Behandlung in Psychiatrie

Verwandte des Mannes stellten dem Abschiebungsreporting NRW die Würdelosigkeit des gesamten Vorgehens dar: Der Mann war im Herbst 2022 zunächst über die Psychosoziale Erstberatung im Lager Rees II an einen Facharzt vermittelt worden und wenige Zeit später in stationäre Behandlung gekommen. Nach seiner Entlassung wurde er dann binnen weniger als 24 Stunden festgenommen, dem Amtsgericht Kleve vorgeführt und in das Abschiebegefängnis Büren gesperrt. Der daran beteiligte Arzt attestierte die Haftfähigkeit des Mannes allerdings nur unter der Voraussetzung der durchgehenden weiteren Gabe der in der Klinik verschriebenen Medikamente. Nach sechs Tagen Abschiebehaft wurde er Mitte Dezember 2022 nach Belgrad abgeschoben: ohne adäquate Winterbekleidung für den kalten serbischen Winter, ohne seine persönlichen Sachen. Diese waren im Mehrbettzimmer des Mannes im Lager Rees II zurückgeblieben. Ein Beratungsgespräch über die Möglichkeit einer sogenannten freiwilligen Ausreise aus Deutschland hat die ZAB Essen mit dem Mann nicht geführt.

Sebastian Rose, Abschiebungsreporting NRW, Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.:
„Das Vorgehen der Zentralen Ausländerbehörde Essen offenbart die Strategien der Behörden in NRW, um Abschiebungen um jeden Preis durchzusetzen. Festnahmeversuch bei der Auszahlung von Sozialleistungen in Rees II, später Festnahme direkt nach einer stationären psychiatrischen Behandlung, wenige Tage später die Abschiebung, dazwischen Abschiebehaft. Eine faire Würdigung der gesundheitlichen Bedürfnisse des Mannes unterblieb dagegen.“

Dass Rom:nja in Deutschland weiterhin kaum Schutz erhalten, ist ein fortdauernder Skandal. Die beschriebene Abschiebung des 52-jährigen Rom wirft ein Schlaglicht auf die, in der Regel, geheime Abschiebepraxis und die Überwachung der Behörden. Die 2021 von der Unabhängigen Kommission Antiziganismus vorgelegten Empfehlungen scheinen bei Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen völlig unberücksichtigt zu bleiben. Die Kommission schrieb in ihren Empfehlungen:

„Die Unabhängige Kommission Antiziganismus empfiehlt der Bundesregierung, ein klares Bekenntnis für eine Verantwortung gegenüber den in der Bundesrepublik seit vielen Jahren lebenden Rom_nja abzugeben und die Perspektivlosigkeit derjenigen, die bis heute mit dem unsicheren Status einer Duldung leben müssen, zu beenden.
Mit Blick auf die praktische Anwendung der Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes ist klarzustellen, dass die in Deutschland lebenden Rom_nja aus historischen und humanitären Gründen als eine besonders schutzwürdige Gruppe anzuerkennen sind. Landesregierungen und Ausländerbehörden sind aufgefordert, die Praxis der Abschiebung von Rom_nja sofort zu beenden.“ (BT-Drs. 19/30310, S. 14)

Kontakt:
Abschiebungsreporting NRW
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Sebastian Rose
Telefon 0221 / 972 69 32
Mobil 01575 / 40 35 862
E-Mail: rose@abschiebungsreporting.de
Twitter: @abschiebung_nrw
Instagram: @abschiebungsreporting_nrw
www.abschiebungsreporting.de

Hintergrund:
Der 52-jährige Mann lebte seit 2011 wiederholt für einige Zeit in Deutschland, wurde aber immer wieder aus dem Land gedrängt. Mehrere enge Verwandte leben in Nordrhein-Westfalen. Später flüchtete er erneut nach Deutschland. Im September 2022 stellte er einen weiteren Asylantrag, der jedoch binnen weniger Wochen abgelehnt wurde. Ein Klageverfahren dagegen ist noch anhängig. Eine Abschiebung war rechtlich dennoch möglich, weil die Klage gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge keine aufschiebende Wirkung hatte.

Serbien wurde 2014 gesetzlich in die Liste der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten aufgenommen. Damit ist es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge deutlich vereinfacht worden, Asylsuchende aus Serbien in schnellen Verfahren abzulehnen. Die Rechtsschutzmöglichkeiten für die Betroffenen sind deutlich eingeschränkt. Seán McGinley und Elisa Söll zeigen in einer vom Netzwerk Pro Sinti und Roma veröffentlichten Untersuchung vom Dezember 2022, welche menschenrechtlichen Aspekte der Einstufung Serbiens und der übrigen Westbalkanstaaten als „sicher“ entgegen stehen.

Die gerichtlich angeordnete Abschiebehaft gegen den Mann wurde in der Form des sogenannten Ausreisegewahrsams durchgeführt. Ein unter anderem vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. erstelltes Infoblatt erläutert, warum das Ausreisegewahrsam sehr problematisch ist.

Für Abschiebungen aus den sogenannten Zentralen Unterbringungseinrichtungen des Landes NRW (ZUE) sind die fünf Zentralen Ausländerbehörden zuständig. Die Zentrale Ausländerbehörde Essen ist für Abschiebungen aus den ZUEen im Regierungsbezirk Düsseldorf zuständig.

In der ZUE Rees II lebten im Dezember 2022 über 350 Geflüchtete.

Mehr:
Gelsenkirchen: Behörden schieben 20-jährige schwer geistig behinderte und in Deutschland geborene Romni mit ihren schwer erkrankten Eltern in den Kosovo ab. Gemeinsame Presseinformation des Projekts „Abschiebungsreporting NRW“ des Komitees für Grundrechte und Demokratie e.V., des Roma Center e.V. und des Bundes Roma Verband e.V., 21. Oktober 2021