Wenn jede Humanität und Rechtsstaatlichkeit dem Abschiebetermin untergeordnet wird
Abschiebungen sind Alltag in Nordrhein-Westfalen. Immer wieder sind davon auch Familien betroffen, immer wieder auch alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern. Neben den aufenthaltsrechtlichen Fragen stellen sich dabei immer auch wichtige Fragen des Kindeswohls. Viel zu oft vernachlässigen deutsche Behörden dabei das Kindeswohl und ignorieren die sich aus der UN-Kinderrechtskonvention ergebenden Verpflichtungen. Das zeigt der folgende Report auf.
Anfang März 2023 hat die Stadt Krefeld eine alleinerziehende Mutter zweier Kinder früh morgens abgeholt und nach Albanien abschieben lassen. Der siebenjährige Sohn der Frau leidet unter einer schweren Erkrankung, deren genauere Untersuchung und Diagnose noch ausstand. Er erleidet mehrere epileptische Krampfanfälle täglich. Die Stadt Krefeld hatte dem Kind Anfang 2023 daher eine Schwerbehinderung (Grad der Behinderung 80) rückwirkend ab Ende Oktober 2022 attestiert. Anfang April 2023 sollte die eigentliche Grunderkrankung durch eine humangenetische Untersuchung weiter abgeklärt werden. Wiederholt wurde auch eine stationäre Behandlung nötig, um das Kind zu stabilisieren.
Doch die Stadt Krefeld, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die Zentrale Ausländerbehörde Essen als beteiligte Vollzugsbehörde warteten die geplanten weiteren Untersuchungen nicht mehr ab. Zudem schränkten sie den Rechtsschutz von Mutter und Kindern ein, um die Abschiebung durchzusetzen. Über einen eingelegten Eilantrag gegen die Zurückweisung eines Asylfolgeantrages der Familie konnte das Verwaltungsgericht Düsseldorf nicht mehr rechtzeitig entscheiden. Denn dafür hätte es den tatsächlichen Abschiebetermin kennen müssen. Dieser stand offenbar bereits seit Wochen fest. Doch weder die Frau noch ihr Rechtsbeistand erfuhren diesen.
Sebastian Rose, Abschiebungsreporting NRW, Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.:
„Die Stadt Krefeld hat durch die rigorose Durchsetzung der Abschiebung dafür gesorgt, dass die dringend benötigte Behandlung eines 7-jährigen Jungen sowie dessen pädagogische Förderung mit einem Schlag abgebrochen worden sind. Mittlerweile sind die mitgegebenen Medikamentenvorräte aufgebraucht. Das Kindeswohl, das gemäß in Deutschland geltender UN-Kinderrechtskonvention bei allen staatlichen Maßnahmen vorrangig zu berücksichtigen ist, wurde wieder einmal ignoriert. Mindestens hätte die genaue Diagnose der noch immer nicht abschließend geklärten Grunderkrankung des Jungen abgewartet werden müssen. Aus anderen Gerichtsverfahren ist bekannt, dass eine epileptische Erkrankung durchaus zu einem Abschiebeverbot im Hinblick auf Albanien führen kann.“
Grunderkrankung des 7-jährigen Kindes war noch ungeklärt
Der 7-jährige Junge wurde in Deutschland bereits intensiv unterstützt. Neben der medizinischen Versorgung besuchte er seit 10 Monaten eine Krefelder Förderschule. Aus einem für das Schulamt der Stadt Krefeld erstellten pädagogischen Gutachten, das das Abschiebungsreporting NRW einsehen konnte, geht hervor:
(…)„Es bestehen dauerhafte und hochgradige Beeinträchtigungen im Bereich der kognitiven Funktionen und in der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit. Hinreichende Anhaltspunkte sprechen dafür, dass N.N. zur selbstständigen Lebensführung voraussichtlich auch nach dem Ende der Schulzeit auf Dauer Hilfe benötigt.“(…)
Und weiter hieß es darin:
(…)“N.N. ist ein schwerbehinderter Junge, der in allen Lebensbereichen stark eingeschränkt und auf Hilfe angewiesen ist.“(…)
Der Junge benötigt zudem dringend regelmäßig Medikamente. Die Stadt Krefeld wusste dies und gab der Frau aus diesem Grund Medikamente für einige Wochen mit. Doch der Vorrat ist mittlerweile aufgebraucht, eine adäquate Versorgung ist in Albanien nicht gewährleistet. Zwar organisierten die Behörden nach eigenen Angaben eine ärztliche Inempfangnahme der Familie am Zielort Tirana. Doch die Frau weist zurück, dass sie dort ärztlich empfangen worden sei. Lediglich Vertreter:innen der Deutschen Botschaft Tirana seien am Zielflughafen vor Ort gewesen. Das zweite Kind der Frau war zum Zeitpunkt der Abschiebung 16 Monate alt und wurde in Deutschland geboren. Da die Frau in Albanien von ihrer Familie verstoßen worden ist, kann sie seither nicht mit familiärer Unterstützung rechnen.
Amtsärztliche Untersuchung mit beschränkter Aussagekraft
Hinsichtlich der Abschiebung wollte sich die Stadt Krefeld rechtlich absichern und ließ die Frau und das 7-jährige Kind vor der Abschiebung amtsärztlich untersuchen. Diese Untersuchung ergab eine „Flugreisetauglichkeit“ des Kindes, sofern dieses von der Mutter begleitet werde. Eine medizinische Begleitung wurde empfohlen. Eine solche „Flugreisetauglichkeit“ bedeutet nach einer in der Regel sehr knappen ärztlichen Überprüfung aber nur, dass eine Person – hier ein Kind – den reinen Flug gesundheitlich überstehen kann. Ob eine adäquate Anschlussversorgung im Zielland der Abschiebung gewährleistet ist, ist dagegen nicht Gegenstand der Untersuchung. Deutlich wird die kursorische Prüfung des Krefelder Gesundheitsamtes auch dadurch, dass die Reisefähigkeit lediglich in kurzen Sätzen handschriftlich notiert worden ist. Das Abschiebungsreporting NRW konnte die Unterlagen einsehen.
Aufgrund der Gewalterfahrungen, die die Frau bereits in Albanien wiederholt gemacht hat, war sie auch selbst psychisch belastet. Die unsichere Aufenthaltssituation trug ebenso dazu bei. Daher war sie an das Psychosoziale Zentrum für Geflüchtete Düsseldorf e.V. angebunden und erhielt dort dringend benötigte Unterstützung, ebenso wie ihr 7-jähriges Kind.
Wenn jede Humanität und Rechtsstaatlichkeit dem Abschiebetermin untergeordnet wird
Aus den Unterlagen der Frau, die das Abschiebungsreporting NRW einsehen konnte, geht ein Behördenhandeln von BAMF und Stadt Krefeld hervor, dass die Rechte der Familie bewusst dem offenbar bereits terminierten Abschiebungsdatum unterordnete. So wollte die Frau aufgrund der schweren, noch nicht abschließend ermittelten Erkrankung des Kindes, bereits am 30. Januar 2023 einen Asylfolgeantrag stellen und hatte dafür bei ihrer Vorsprache bei der BAMF-Außenstelle Bonn einen Schriftsatz ihres Anwaltes dabei. Doch im Laufe des Februar 2023 ergab sich, dass noch immer kein Asylfolgeantrag beim BAMF erfasst sei. Das BAMF verwies gegenüber dem Anwalt auf „menschliches Versagen“ und bat zur erneuten Vorsprache am 27. Februar 2023.
Diesem kam die Frau nach, sodass der Asylfolgeantrag am 27. Februar 2023 erfasst wurde. Doch noch am gleichen Tag wies das BAMF den Antrag zurück. Es ist offen, wie die Behörde einen so komplexen Sachverhalt in weniger als 24 Stunden bewerten konnte. Der Bescheid des Amtes ging dann jedoch erst einige Tage später zur Post und erreichte den Anwalt erst am 06. März 2023. Am 08. März 2023 frühmorgens erfolgte jedoch bereits die Abschiebung, die offenbar Wochen zuvor bereits terminiert worden war. Der Anwalt hatte dazwischen, am 07. März 2023, noch per Eilantrag und Klage das Verwaltungsgericht Düsseldorf angerufen, das jedoch nicht mehr rechtzeitig über den Eilantrag entschied.
Sebastian Rose, Abschiebungsreporting NRW, Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.:
„Der effektive Rechtsschutz der Familie wurde stark eingeschränkt und das ging inbesondere zulasten eines vulnerablen Kindes. Dass bereits Wochen zuvor festgelegte Abschiebetermine den Betroffenen nicht mitgeteilt werden, ist ein Resultat vergangener Gesetzesverschärfungen und Teil der inhumanen Abschiebepraxis auch in Nordrhein-Westfalen. Selbst beteiligte Rechtsanwält:innen werden – wie hier – nicht rechtzeitig informiert, um sachgerecht rechtliche Mittel prüfen zu können. Das ist ein fortdauernder Skandal!“
Vollzug der Abschiebung zeigt Praxis der Stadt Krefeld und der Zentralen Ausländerbehörde Essen auf
Aus den Unterlagen der Familie, die das Abschiebungsreporting NRW einsehen konnte, geht auch hervor, wie die Vollzugsbehörden am Tag der Abschiebung agierten. Da die Familie in einer Wohnunterbringung der Stadt Krefeld lebte, brachten die Behörden selbst Schlüssel mit, um in das Haus einzudringen. Die Tür des Hauses konnte damit geöffnet werden, jedoch nicht die Tür der Wohnung, da darin von innen ein Schlüssel steckte. Wohnungen sind allerdings grundrechtlich geschützt und dürfen nicht einfach so ohne Erlaubnis von staatlichen Stellen betreten oder durchsucht werden. Ob die Stadt Krefeld und die Zentrale Ausländerbehörde Essen sich vorab einen Durchsuchungsbeschluss vom örtlich zuständigen Gericht für die Durchführung der Maßnahme beschafft haben, ist dem Abschiebungsreporting NRW nicht bekannt.
Kontakt:
Abschiebungsreporting NRW
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Köln
Sebastian Rose
Telefon 0221 / 972 69 32
Mobil 01575 / 40 35 862
E-Mail: rose@abschiebungsreporting.de
Hintergrund:
Die Abschiebung der dreiköpfigen Familie erfolgte mit einem Sammelcharter am 08. März 2023 vom Flughafen Düsseldorf nach Tirana. Die Familie lebte seit Mai 2021 in Deutschland.
An der Durchführung bzw. Vorbereitung der Abschiebung waren die Stadt Krefeld, die Zentrale Ausländerbehörde Bielefeld, die Zentrale Ausländerbehörde Coesfeld und die Zentrale Ausländerbehörde Essen beteiligt. Rechtlich zuständig für die Abschiebung war die Stadt Krefeld.
Das erste Asylverfahren der Familie wurde im September 2021 vom BAMF als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Eine Klage dagegen war im Januar 2022 vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf erfolglos. Asylanträge von Personen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten werden in der Regel als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Die Anforderungen an die Betroffenen, ihre Schutzgründe vorzutragen, sind gegenüber normalen Asylverfahren deutlich erhöht.
Albanien wurde im Jahr 2015 in Deutschland gesetzlich als sogenannter sicherer Herkunftsstaat eingestuft. Damit ist es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge deutlich vereinfacht worden, Asylsuchende aus Albanien in schnellen Verfahren abzulehnen. Kaum mehr Menschen erhalten so Schutz. Die Rechtsschutzmöglichkeiten für die Betroffenen sind zudem deutlich eingeschränkt. Seán McGinley und Elisa Söll zeigen in einer im Dezember 2022 veröffentlichten Studie auf, welche menschenrechtlichen Aspekte der Einstufung Albaniens und der übrigen Westbalkanstaaten als „sicher“ entgegen stehen.
Presseberichte: